Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Transi schnappte sich den Geldschein und schwenkte beleidigt den Hintern. Im Rückspiegel sah Hanne seine langen Waden auf zehn Zentimeter hohen Absätzen weiterwackeln.
Wie alle bei der Polizei hatte Hanne ihre Karriere auf Streife begonnen. Von damals wußte sie, daß Fragen keinen Sinn hatte. Die Nutten konnten sich gegenseitig totschlagen, um sich einen festen Platz an einer Straßenecke zu sichern, aber Leute, die nach Bullerei rochen, durften nicht auf Gratisauskünfte hoffen.
Hanne roch nach Bullerei und wußte das auch. Sie fuhr weiter über die Piste, die der riesige Lastzug abgesteckt hatte. Zum Glück hatte der Fahrer sich endlich entschieden. Nur ein Volvo-Kastenwagen mit deutlich sichtbarem Kindersitz schaukelte langsam über den Strich; es ging auch hier auf eine Art Ladenschluß zu. In der Myntgate kam der Wagen langsam zum Stehen, und eine zierliche Gestalt im Webpelz schlüpfte nach einer kurzen Diskussion über Preis und Produkt auf den Beifahrersitz. Die Kleine hätte vermutlich auch in den Kindersitz gepaßt.
Jemand humpelte allein auf den Bankplass zu. Die Fassadenbeleuchtung der alten Loge ließ eine kurze Silberlaméjacke aufglänzen. Hanne fuhr langsamer, kurbelte noch einmal das Fenster herunter und sagte: »He. He, du!«
Die Frau drehte sich um. Sie brauchte einige Sekunden, um klar sehen zu können.
»Kei’ Zeit«, sagte sie schroff.
Hanne hielt an und wollte aussteigen.
»Red nich’ mi’ Bullerei.« Die Frau redete immer weiter vor sich hin. Sie hatte einen seltsamen Gang; es sah aus, als drehe sie sich nach jedem zweiten Schritt halb um. »Kei’ Zeit, kei’ Lust.«
»Harrymarry!«
Obwohl die Frau nicht auf den Namen zu reagieren schien, wußte Hanne, daß sie die Gesuchte gefunden hatte. Am Vormittag hatte sie sich über Harrymarry informiert, die im Januar fünfundfünfzig werden würde. Diese Gestalt hier hätte allerdings auch auf die Achtzig zugehen können. Trotzdem zeugten ihre Bewegungen von einer bewundernswerten Stärke, von einer Trotz-alledem-Haltung, die sie lange über ihre Zeit hinaus aufrechterhalten hatte. Hanne versuchte ihr die Hand auf die Schulter zu legen.
»Loslassen!« fauchte Harrymarry und steigerte ihr Tempo. Ihr Humpeln wurde deutlicher, offenbar war ihre rechte Hüfte ruiniert.
»Möchtest du etwas essen? Hast du Hunger?«
Endlich blieb Harrymarry stehen. Sie schaute Hanne aus zusammengekniffenen Augen an und schien sich zu fragen, ob sie richtig verstanden hatte.
»Essen?«
Sie schien dieses Wort regelrecht auszukosten; sie schnalzte mit der Zunge und kratzte sich am Oberschenkel. Hanne mußte sich abwenden, als sie die vereiterte Wunde sah, die durch Netzstrümpfe hindurch von schmutzigen langen Nägeln aufgekratzt wurde.
»Essen. N’ gut.«
Harrymarry verschwendete nichts, auch keine Buchstaben. Hanne wußte, daß sie mehr Glück als Verstand hatte. Die Frau mit einer Mahlzeit zu locken war idiotisch gewesen. Harrymarry hätte auch beleidigt sein und völlig dicht-machen können. Jetzt war es Hannes größtes Problem, mitten in der Nacht für eine erschöpfte Nutte etwas zu essen aufzutreiben. Natürlich konnten sie zu einer Tankstelle fahren, aber die Atmosphäre an so einem Riesenkiosk mit Flutlicht wurde ein Gespräch mit Harrymarry wohl kaum begünstigen.
Harrymarry nickte zur Dronningens gate hinüber und setzte sich in Bewegung. Erleichtert nahm Hanne an, daß die andere wußte, wohin sie gehen könnten. Einige Minuten später saßen sie einander gegenüber auf roten Plastikstühlen in einem Imbiß, in dem sie die einzigen Gäste waren. Hanne rauchte. Harrymarry aß.Rosa Soße tropfte aus ihrem Mundwinkel. Ihr Blick wanderte immer wieder zum Koch hinter dem Tresen hinüber, als wolle sie sich vergewissern, daß es dort, woher das Kebab gekommen war, noch mehr zu holen gab. Ihre Cola hatte sie mit einem einzigen Schluck geleert.
»Mehr. Bitte.«
Hanne steckte sich noch eine Zigarette an und wartete geduldig, bis ein weiteres Kebab samt Zubehör verzehrt war. Harrymarry rülpste hinter vorgehaltener Faust und erwiderte zum ersten Mal den Blick ihrer Wohltäterin. In ihren braunen Augen funkelten gelbe Pünktchen. Weniger attraktiv war die einwandfrei gelbe Tönung der Augäpfel, die unter den schweren Lidern jedoch kaum zu sehen waren.
»Du hast angerufen«, sagte Hanne.
Es war eher eine Behauptung als eine Frage, und das bereute sie sofort.
»Hab nix verbrochen.«
»Das weiß ich.«
Harrymarry war nervös und schielte zum
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