Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
ging in die Hocke und sammelte die Handschuhe auf. Danach klebte Talkum an seinen Fingern, und er fuhr damit über seine Hosenbeine.
»Mir fällt noch etwas ein.«
Dr. Felice wirkte erschöpft. Billy T. sah erst jetzt, daß die kurzen dunklen Haare des anderen an den Schläfen grau wurden und daß sein kräftiger Bartwuchs sich geltend machte. Billy T. zog seine Taschenuhr hervor und fluchte, weil es schon halb fünf war.
»Was denn?« fragte er barsch.
»Ich … in den Unterlagen, die ich Ihnen gegeben habe, steht nichts darüber, daß …«
Dr. Felice nahm sich noch eine Pastille. Auch die wurde nicht in den Mund gesteckt, sondern zu einer weichen grünen Erbse zerknetet.
»Brede Ziegler war sterilisiert. Das wird natürlich auch die Obduktion ergeben. Oder … er ist wohl schon obduziert worden. Ich wußte nicht, ob das für den Fall von Bedeutung ist, deshalb habe ich es nicht erwähnt …« Er winkte vage zu dem Umschlag hinüber, den Billy T. in der rechten Hand hielt.
»Jedenfalls wollte er vor seiner Heirat sterilisiert werden. Ich habe natürlich ausgiebig mit ihm über diesen Eingriff gesprochen, aber er war sich seiner Sache ganz sicher. Bei seinem Alter hatte ich natürlich auch keine Einwände, aber er hatte noch kein Kind und wollte eine junge, vermutlich fruchtbare Frau heiraten, deshalb …« Immer wieder verstummte er. Mehrmals preßte er Daumen und Zeigefinger gegen die Augen, als könne er nicht mehr klar sehen. »Aber das ist sicher nicht interessant für Sie.«
»Doch«, sagte Billy T.. »Ich muß jetzt los, aber wenn Sie mich in den nächsten Tagen nicht anrufen, rufe ich Sie an. Okay?«
Dr. Felice gab keine Antwort. Das Telefon klingelte, es war ein modernes, digitales Klingeln. Er griff zum Hörer, und Billy T. schloß die Tür hinter sich.
»Das ist die, die immer nach Dr. Glücklich fragt«, hörte er die Vorzimmerdame sagen. »Soll sie später wieder anrufen?«
Glücklich. Billy T. lächelte einer Schwarzen mit einem quengelnden Kind von vielleicht zwei Jahren verkniffen zu, als ihm aufging, was »felice« wirklich bedeutete.
»Dr. Glücklich«, murmelte er. »Passender Name für einen Arzt.«
Er vergaß, die Impfung zu bezahlen.
33
In zwei Stunden mußte sie zur Probe. Noch hatte sie kaum eine Vorstellung davon, was für eine Figur sie da darstellen sollte. Wie immer hatte sie den Text schnell gelernt. Der Text war wirklich nicht das Problem. Die Schwierigkeiten leuchteten ihr schon vom Umschlag des Rollenheftes entgegen, das inzwischen von Kaffeeflecken und Eselsohren gezeichnet war.
»Narziß nach dem Fest.«
Blödsinn! Thale hatte viele Wochen mit Textanalyse verbracht; die Worte blieben sinnlose Postulate auf einem Stück Papier. Ihre Rolle war Paradoxon und Parodie zugleich, was jedoch nicht den Absichten des Autors entsprach. Sie sollte eine liebeskranke griechische Nymphe im Osloer Nobelviertel Aker Brygge spielen.
Der Intendant hatte das Stück offenbar in dem Gefühl angenommen, etwas für neue norwegische Dramatik tun zu müssen. Warum wollte er nichts von Jon Fosse? Sie war zwar schon in zwei Fosse-Stücken aufgetreten, aber da hatte sie immerhin Material, eine Seele, in die sie sich vergraben konnte. Aus Anlaß der Jahrhundertfeier des Nationaltheaters war ein Wettbewerb ausgeschrieben worden. Ein meinungsgeiler Kriminalschriftsteller, der mit episch angelegten Mordrätseln in Buchform großen Erfolg hatte, hatte den Sieg davongetragen. Sein Stück aber war und blieb erbärmlich schlecht. Bei der letzten Probe war Thale vom Regisseur zusammengestaucht worden. Er habe es satt, hatte er gesagt, daß sie die knapp bemessene Probezeit damit vergeude, über den Text zu klagen, statt zu versuchen, etwas daraus zu machen. Engagement, hatte er geheult und einem Scheinwerfer einen Tritt versetzt. Dabei hatte er sich den kleinen Zeh gebrochen. Jetzt humpelte er auf Krücken durch die Gegend und war übellauniger denn je.
Thale legte sich aufs Sofa und deckte sich mit ihrer Schlummerdecke zu. Sie schloß die Augen. Engagement. Sie mußte versuchen, Engagement zu entwickeln. Für ein Stück, in dem der griechische Narzissos-Mythos in ein neureiches norwegisches Milieu des Jahres 2000 verlegt worden war. Scheinbar erfolgreiche Menschen irrten über die Bühne, ergingen sich in Leere und wichen jeder Liebe aus, die anderen galt als ihnen selbst. Im Geiste hörte Thale schon das Lachen des Publikums, dem ein Aktienmakler namens Narzissos zugemutet wurde.
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