Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Das Tragische war, daß es sich bei dem Stück nicht um eine Farce handelte. Daß sie selbst ein Spice-Girl-Kostüm tragen und Echo heißen sollte, würde allenfalls ein mitleidiges Lächeln hervorrufen.
Sie versuchte, sich zu konzentrieren und sich von ihrer Verachtung für dieses Stück zu distanzieren, doch das gelang ihr nicht. Wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte den Zusammenhang zwischen dem bewegenden griechischen Mythos und einer fünf Stunden währenden Whiskytrinkerei in einer postmodernen Wohnung nicht erkennen. Der eigentliche Narziß hatte sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt und Echos Liebe verschmäht. Da das Spiegelbild ein unerreichbarer Geliebter war, hatte diese Liebe ihn ins Unglück geführt und zu Fall gebracht. Der Aktienmakler dagegen war im Grunde ziemlich zufrieden mit seiner Selbstliebe. Und das ergab keinen Sinn. Das Schlimmste an dem Stück jedoch waren die Freiheiten, die der Autor sich mit Echo erlaubt hatte. Im Mythos starb sie an der Trauer über ihre verlorene Liebe, ihr Klagelied jedoch, das Echo, blieb in alle Ewigkeit bei den Menschen zurück. Thale schauderte bei der Vorstellung, wie sie im letzten Akt Narzissos in der Badewanne vergewaltigen mußte. Alle holten sich das, was sie haben wollten, wenn nötig auch mit Gewalt.
Es ärgerte sie, daß ein Autor, der seinen Stoff offenbar nicht begriffen hatte, sie zwingen konnte, seine verschrobenen Ideen vorzutragen.
Sie mußte an etwas anderes denken. Prompt schlief sie ein.
Zwanzig Minuten später wurde sie von einem Traum geweckt. Sie war schweißnaß und außer Atem und wußte noch, daß sie in Daniels Wohnung gewesen war und ihm geholfen hatte, Bilder aufzuhängen. An der einen Wand prangte eine häßliche feuchte Stelle, und die wollte sie mit einem Foto bedecken. Doch kaum hatte sie es aufgehängt, bildeten sich daneben Risse in der Wand. Neues Bild, neue Risse. Sie lief und lief, schneller und schneller, und dennoch drohte die ganze Wohnung vor ihren Augen einzubrechen.
Thale setzte sich auf und schaute auf die Uhr. Sie wollte sich noch einen Kaffee kochen und dann zu Fuß ins Theater gehen.
Sie machte sich arge Sorgen um ihren Jungen.
Nichts war so gekommen, wie sie es gewollt hatte. Daniel war vorenthalten worden, worauf er ein Anrecht hatte. Sie sah, daß etwas dem Jungen zu schaffen machte. Er verbrachte mehr Zeit bei seinen stumpfsinnigen Nebenjobs als beim Studium und wirkte durch und durch unglücklich. Sie hatte das Gefühl, daß hinter seinem Kummer viel gewichtigere Gründe steckten als die Tatsache, daß er aus dem Bogstadvei in diese verschimmelte Bude ohne Bad hatte ziehen müssen. Als er am vergangenen Samstag einen Versuch unternommen hatte, mit ihr zu sprechen, hatte sie ihn abgewiesen. Sie hatte das eigentlich nicht gewollt, aber seine Fragen waren zu direkt gewesen, zu schmerzhaft, als daß sie darauf hätte eingehen können. Sie wollte sie nicht hören. Sie konnte nichts dafür, daß Daniel im Stich gelassen worden war. Thale wollte nicht, daß ihr Sohn sich im Vergangenen festbiß. Sie wollte ihm helfen, vorwärts zu schauen. So hatte sie es immer gehalten.
Sie trank sehr langsam eine halbe Tasse Kaffee und ging dann ins Badezimmer. Der Alptraum hing in ihren Kleidern wie ein unangenehmer Geruch, sie streifte sie ab und stopfte sie in den Korb für schmutzige Wäsche. Es tat gut, sich das heiße Wasser über den Rücken strömen zu lassen.
Eigentlich ging es nur um Geld.
Daniel hatte nicht die Erbschaft erhalten, auf die er Anspruch gehabt hatte; die Erbschaft, von der sie und Idun beschlossen hatten, daß sie ihm zufallen sollte. Daniel hatte seinen Großvater beerben sollen. Idun, die Daniel albernerweise noch immer Taffa nannte, wie er es als kleiner Junge getan hatte, war kinderlos. Idun liebte Daniel wie ihren eigenen Sohn. Sie waren sich einig gewesen. Thale hatte sich niemals von Geld oder von der Möglichkeit lenken lassen, an welches heranzukommen. Schon mit siebzehn hatte sie für sich selbst gesorgt. Nie, nicht ein einziges Mal, hatte sie ihren Vater um Geld gebeten. Trotzdem hatte in diesem Geld immer eine Sicherheit gelegen. Die Villa in Heggeli war eine Familienversicherung gewesen, die am Ende Daniel zugute kommen sollte. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, daß ihr Vater, ein Anwalt beim Obersten Gericht, finanzielle Schwierigkeiten haben könnte. Als er mit achtzig Jahren nach kurzer Krankheit starb, war die Erbschaft aufgezehrt gewesen. Die Villa war sechs Millionen
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