Das letzte Opfer (German Edition)
dem Mann erhoffte, der gegen sie ausgesagt hatte.
Norbert erklärte es hundertmal. «Herrgott, Mama, er hat gesehen, wie sie den Radfahrer umgenietet hat. Und sie will wissen, wie das passieren konnte. Ist doch verständlich, oder?»
«Und was ändert sich, wenn sie es weiß?», hielt Christa dagegen. «Davon wird der alte Mann auch nicht wieder lebendig. Das dumme Ding, hätte sie nicht besser ein paar Enten plattfahren können, wenn denn da welche gewesen sein sollten?» Christa zog es vor, Dinge, die man nicht ändern konnte, einfach auf sich beruhen zu lassen.
Das konnte Karen nicht. Und das war es nicht allein. Sie wollte von zu Hause weg, meinte oft, es keinen Tag länger zu ertragen. Jeden Morgen das Blut vor Augen und Lis Stimme im Ohr, überdröhnt von lauter Musik. «Ein romantisches Fleckchen in der Nähe von Kürten-Biesfeld. Hoffentlich setzt der Typ nicht zu sehr auf Romantik. Um vier will ich ihn los sein. Ich habe noch was anderes zu erledigen.»
Und jeden Morgen die Frage, warum sie den Radfahrer nicht gesehen und den Aufprall nicht gehört hatte. Aber Marko Stichler hatte es gesehen, hatte in seinem Kopf, was ihr fehlte.
In den ersten Monaten wollte er allerdings nichts mit ihr zu tun haben, wurde jedes Mal wütend, wenn sie bei seiner Stiefmutter saß und er sie zu Gesicht bekam. «Was will die schon wieder hier? Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst sie mir vom Leib halten?»
«Sie will doch nur eine Antwort», sagte seine Stiefmutter regelmäßig.
«Und warum fragt sie nicht ihren Bruder? In der Verhandlung wusste der doch alles ganz genau. Es wäre vielleicht interessant, zu erfahren, warum sie ihm nicht glaubt.»
Für Marko war sie nur die Schwester eines Mannes, den er nicht ausstehen konnte. Dass sie sich anderthalb Jahre nach dem Unfall noch mit Schuldgefühlen quälte, konnte er sich nicht vorstellen. Er unterstellte ihr, sie wolle nur Karriere machen. Seine Stiefmutter vermittelte junge Frauen und Männer als Models für kleine Versandhauskataloge und Werbeprospekte von Kaufhäusern. Er war Fotograf.
Als er sie mit seinem abweisenden Verhalten nicht los wurde, bot er ihr Aufnahmen an. Bademoden für den nächsten Frühjahrskatalog. Das war Anfang September 1992. Meist wurden solche Aufnahmen im Studio gemacht, aber er fuhr mit ihr in die Eifel, an einen kleinen See in der Nähe von Blankenheim. Während der Fahrt sprach er kein Wort. Dann nörgelte er herum, weil sie zu steif war, sich nicht bewegen konnte wie ein Model.
Schließlich wurde es ihr zu viel. Ehe er es verhindern konnte, lief sie ins Wasser und rief: «Komm her und ersäuf mich, das wolltest du doch vor zwei Jahren schon tun!»
Es war ein angenehm milder Tag, die Lufttemperatur lag noch bei vierundzwanzig Grad. Aber das Wasser war eisig kalt und auch gleich sehr tief, das hatte sie nicht erwartet. Sie strampelte in einem knappen Bikini herum und bekam kaum Luft. Marko stand ein paar Meter entfernt am Ufer, drückte unentwegt auf den Auslöser, während sie schrie: «Leg endlich die blöde Kamera weg und komm her, dann hast du deine Ruhe!»
«Erst die Arbeit, dann das Vergnügen», rief er zurück. «Stell dich hin, ich brauche den Bikini.»
«Hier kann man nicht stehen!», schrie sie. «Es ist zu tief.»
«Dann komm raus!», rief er ungeduldig. «Jetzt mach schon. Du siehst bereits aus wie eine Leiche. Komm raus da, sonst holst du dir wirklich noch den Tod.»
«Vielleicht will ich das!», schrie sie. «Nur damit du siehst, wie es ist, wenn man einen Menschen auf dem Gewissen hat.»
Er lachte. «Bildest du dir ein, ich würde eine dumme Gans auf mein Gewissen nehmen?»
Dann nahm er die Kamera herunter, drehte sich um, ging zu seinem Auto und rief: «Viel Spaß noch. Soll ich deinen Bruder verständigen, oder soll ich es der Polizei überlassen?»
«Du arroganter Mistkerl!», brüllte sie hinter ihm her.
Er stockte, kam zurück, bis dicht ans Wasser. «Wie hast du mich gerade genannt?», fragte er und klang so verwundert dabei.
«Arroganter Mistkerl», wiederholte sie. «Oder ist dir selbstherrlicher Arsch lieber? Das passt auch gut. Dir läuft die Gerechtigkeit am Hintern raus, andere nennen das Durchfall.»
Er lachte noch einmal. «Mutig», sagte er und nickte anerkennend. «Wirklich sehr mutig. Was denkst du? Dass du mich nur richtig provozieren musst, damit ich dir den Gefallen tue? Habt ihr keine Badewanne? Warum suchst du dir nicht ein schönes Plätzchen am Rhein? Es wird ja wohl andere
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