Das letzte Opfer (German Edition)
Warum probiert das nicht mal einer aus? Ich kann Ihnen genau sagen, wie es passiert ist. Er hat mein Auto erkannt und sie gejagt. Ist doch logisch, dass ein junges Mädchen in Panik gerät, wenn plötzlich einer wie der Teufel hinter ihr her ist. Da hat sie wahrscheinlich mehr in den Rückspiegel geschaut als nach vorne.»
Der Jugendrichter ärgerte sich maßlos über Norberts ständige Einwürfe, und letztlich schlug sich das im Urteil gegen sie nieder. Aber für sie war das bedeutungslos.
In unzähligen Nächten stand sie in der Diskothek, hörte Lis Stimme, von lauter Musik zerhackt, über Jasmins Vater sprechen, jedenfalls verstand sie es so, aber sie verstand längst nicht alles. Li sprach nicht mit ihr, sondern mit der jungen Frau, die zusammen mit ihr an der Theke bediente. Sie hörte sich selbst zu Li sagen: «Ich glaube, wir beide sollten mal in Ruhe reden.» Hörte Li mit diesem Ton von Unbehagen fragen: «Bist du etwa Norberts Schwester?» Dann liefen sie nebeneinander durch den Regen, zu zweit unter einem Schirm.
Und jeden Morgen, in diesen zwei Sekunden, bevor sie die Augen öffnete, sah sie das Blut, diesen Schmierstreifen an der Windschutzscheibe.
Sie versagte in der Schule, schaffte das Abitur auch mit Nachprüfungen nicht. Von den achtzig Stunden Sozialarbeit arbeitete sie vielleicht zehn und saß den Rest ab am Bett eines alten Mannes, dem sie unentwegt erklärte, wie Leid ihr das alles täte.
In der Nachbarschaft wurde getuschelt. Christa mochte über den Unfall schweigen wie ein Grab, es fiel jedem auf, dass Norbert nicht mehr seinen heiß geliebten Ford Taunus fuhr, sondern den alten Kleinwagen, den er für Karen hergerichtet hatte. Die Kundinnen, die Christa in ihrer Küche bediente, stellten unangenehme Fragen, wenn sie Karen zu Gesicht bekamen.
Sie ließ sich gehen, wusch sich tagelang nicht die Haare. Oft lief sie noch weit nach Mittag im Nachthemd herum, schnappte sich manchmal ihre kleine Tochter und sagte: «Ich hab dich so lieb, Schätzchen. Ich hab dich so furchtbar lieb. Daran wird sich auch nie etwas ändern.» Dabei drückte sie das Kind so fest an sich, dass Jasmin vor Schmerz ihr Gesichtchen verzog.
Nachdem sich die Hoffnung zerschlagen hatte, dass sie doch noch das Abitur schaffte, suchte Christa Ausbildungsplätze für sie und nahm, was sich gerade bot, drei Frisörsalons, eine Rechtsanwaltskanzlei und einen Drogeriemarkt. Schon nach wenigen Wochen verlor sie jede Stelle wieder. In einem Frisörsalon hielt sie einer Kundin den Wasserstrahl ins Gesicht, statt der Frau die Haare zu waschen. Beim Rechtsanwalt tippte sie keine Schriftsätze, sondern romantische Liebesgeschichten mit italienischen Austauschschülern. Im Drogeriemarkt stand sie stundenlang vor einem Regal mit kleinen, bunten Glasenten. Sprach man sie an, verlangte sie wie im Krankenhaus: «Scheuch doch mal die Enten weg, damit ich sehe, was da los ist.»
Es gab Tage, da erschien sie gar nicht erst zur Arbeit, trieb sich in Köln herum. Wenn es regnete, setzte sie sich in ein Café und bestellte sich einen Cappuccino, auch wenn sie keinen Pfennig Geld in der Tasche hatte. Wenn es ans Bezahlen ging, verwies sie auf ihre Freundin. Und wenn man sie darauf aufmerksam machte, dass sie allein am Tisch saß, erzählte sie von Li und dem Vormittag im Regen, da hätten sie sich auch einen Cappuccino gegönnt und offen über Jasmins Vater gesprochen.
«Ich wollte nicht, dass sie sich mit ihm traf», sagte sie einmal. «Sie behauptete, ich hätte in der Diskothek etwas missverstanden. Aber ich habe ganz genau verstanden, dass sie mit ihm geschlafen hatte. Und dabei hat er ihr von meinem Höschen erzählt. Er hat es mitgenommen, als Andenken. Es war nur ein einfaches, weißes, davon hatte ich viele. Meine Mutter hat es nicht vermisst.»
Manche hielten sie für geisteskrank. Zweimal wurde die Polizei gerufen, weil man sich nicht mit ihr auseinander setzen wollte. Oft musste Norbert am Abend losfahren, um sie zu suchen. Ab dem Frühjahr 1992 fand er sie meist in der Agentur Stichler.
Marko Stichlers Stiefmutter bot ihr, was sie bei Christa vermisste, Verständnis und ein geduldiges Ohr. Dass sich an ihrem Zustand noch etwas änderte, war größtenteils dieser Frau zu verdanken. Doch von Dankbarkeit dieser Frau gegenüber war ihre Familie anfangs weit entfernt. Marko Stichler war schließlich der Feind, der Unfallzeuge. Und genau genommen lief Karen seinetwegen zur Agentur. Christa verstand nicht, was ihre Tochter sich von
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