Das letzte Opfer (German Edition)
erfahrener Kriminalpsychologe, damals Ende vierzig. In Fachkreisen genoss er einen ausgezeichneten Ruf. Ermittler aus allen Regionen wandten sich an ihn, wenn sie bei einem Mordfall nicht weiter wussten.
Wagenbach hörte Scheib zu, winkte jedoch rasch ab. Vier Opfer? Aber nur eine Leiche und die auch noch aus Scheibs persönlicher Umgebung? Da sollte man mit Spekulationen vorsichtig sein. Dass ein Mörder alle zwei Jahre hunderte von Kilometern fuhr, um zu einem bestimmten Termin eine Frau zu töten und die Leiche so zu verstecken, dass sie nur durch einen großen Zufall – oder ein Rudel Wildschweine – wieder auftauchte, von solch einem Fall hatte Wagenbach noch nie gehört.
Das war für Scheib kein Argument. Wagenbach riet ihm in väterlich gönnerhaftem Ton, es einmal mit einem anderen Datum zu probieren, dem 21. März oder dem 18. Juli. Bei einigen tausend vermissten Personen bekäme er da auch rasch etliche Namen zusammen und würde wahrscheinlich auch ein paar Gemeinsamkeiten finden.
Scheib ließ sich nicht beeindrucken. Er wandte sich an die lokalen Polizeibehörden. Aber was hatte er in der Hand? Ein Datum, eine Stadt in Italien, eine Leiche und drei vermisste junge Frauen. Dass Angela Karpeling, Silvia Lenz und Marion Schneider im Ausland etwas zugestoßen sein könnte, zog er nicht in Betracht. Über Leichenfunde wäre das BKA durch Interpol informiert worden. Und Elisabeth Brandow war niemals bis Rom gekommen. Deshalb war er überzeugt, dass die drei anderen ebenfalls in der näheren Umgebung ihrer Wohnorte verscharrt worden waren.
Doch niemand war bereit, unzählige Hektar Wald absuchen zu lassen, nur weil ein junger BKA-Beamter eine Theorie hatte. Vielleicht hätte es um die Bereitschaft anders ausgesehen, wenn ein erfahrener Kriminalpsychologe solch eine Aktion befürwortet hätte. Aber daran dachte Wagenbach nicht im Traum, im Gegenteil, er mahnte, sich nicht in die Arbeit der örtlichen Polizeibehörden einzumischen.
Scheib ignorierte den Rat, bemühte sich auf eigene Faust, mehr über die drei Vermissten und ihre Kontakte zu erfahren. In Begleitung seiner Frau verbrachte er einige Wochenenden in Bielefeld, Stuttgart und Lübeck. Wenn Claudia dabei war, hatte es ein wenig den Anschein von Ausflügen eines jungen Ehepaares und ersparte ihm das schlechte Gewissen ihr gegenüber.
Der Polizei vor Ort blieben seine Aktivitäten nicht lange verborgen, weil die Angehörigen meist bei ihnen nachfragten, wenn er sie besucht hatte. Erfreut zeigte sich niemand von seinen Recherchen. Keiner wollte sich nachsagen lassen, er habe schlampig gearbeitet, etwas Wesentliches übersehen oder das Naheliegende nicht sehen wollen. Doch immerhin erklärten sich seine Bemühungen mit dem Posten in der zentralen Vermisstenstelle des BKA. Niemand fragte nach einer offiziellen Weisungsbefugnis. Es kam auch niemand auf den Gedanken, sich in Wiesbaden über ihn zu beschweren.
Er durchleuchtete gründlich die persönlichen Verhältnisse der drei Frauen, befragte Freunde, ehemalige Arbeitskollegen und Familienangehörige. Nach der langen Zeit erinnerte sich kaum noch jemand an etwas Konkretes, ein wichtiges Detail erfuhr er trotzdem: Zeitungen!
Angela Karpeling aus Bielefeld hatte sich 1986 nicht auf eine Annonce beworben, sondern selbst eine Kleinanzeige aufgegeben. «Reiselustige junge Frau sucht …» Bei den Sachen, die ihre Eltern aus ihrer Wohnung geholt und aufgehoben hatten, fand sich ein entsprechender Beleg. In Stuttgart stieß er auf einige Artikel der Volontärin Silvia Lenz aus dem Jahr 1988, die mit ihrem Namen gezeichnet waren.
Marion Schneider aus Lübeck hatte 1992 ebenfalls eine Kleinanzeige aufgegeben, daran erinnerte sich ihre Schwester. Sechs Wochen vor ihrer Abreise hatte Marion einen Käufer für ihr Auto gesucht, weil sie arbeitslos geworden war und den Wagen nicht mehr unterhalten konnte. Verkauft worden war das Fahrzeug an einen professionellen Händler. Aber es hatte mehrere Interessenten gegeben. Und mit einem hatte Marion sich am Telefon verabredet, das wusste ihre Schwester auch noch. Kurz darauf hatte sie dann begonnen, von dem tollen Job in Rom zu schwärmen.
Nur Elisabeth Brandow schien ihren Mörder auf andere Weise kennen gelernt zu haben. Daraus schloss er, dass sie möglicherweise das erste Opfer gewesen war. Und für den ersten Mord war der Täter nicht hunderte von Kilometern gefahren. Es war anzunehmen, dass er sein erstes Opfer in seiner so genannten Komfortzone gefunden
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