Das letzte Opfer (German Edition)
hatte. Damit war ein Gebiet mit einem Radius von etwa dreißig Kilometern rund um den Wohnort des Mörders gemeint. Und das bedeutete, er stammte vielleicht aus Würzburg oder der Umgebung.
Scheib war kein Fachmann auf dem Gebiet, aber er hatte doch eine Menge über Serienmörder gelesen und intuitiv das Richtige getan, Opferprofile erstellt, die Rückschlüsse auf den Täter erlaubten. Keine der vier Frauen hatte einer der einschlägigen Risikogruppen angehört wie Prostituierte, alte Menschen oder Kinder. Alle hatten sie in gutbürgerlichen Milieus gelebt und Selbstbewusstsein entwickelt. Sie waren keine Opfer spontaner Überfälle.
Der Mörder hatte sich um ihr Vertrauen bemüht. Er musste eine gute Allgemeinbildung besitzen und stammte vermutlich wie die vier Frauen aus der Mittelschicht. Scheib unterstellte ihm Charisma, Wortgewandtheit, Risikobewusstsein und Intelligenz – Eigenschaften, die für die Art der Taten unabdingbar waren. Er durfte weder durch ein körperliches Gebrechen noch einen Sprachfehler gehandicapt sein. Wer am Telefon stotterte, überzeugte nicht. Wer körperlich nicht in guter Verfassung oder irgendwie verunstaltet war, brachte eine junge Frau wie Elisabeth nicht dazu, für eine Fahrt nach Rom in seinen Wagen zu steigen.
Allmählich gewann Scheib eine konkrete Vorstellung des Täters, von dessen Motiven und seinem familiären Hintergrund. Dazu gab es ausgiebige Untersuchungen. Fast immer dominierten die Mütter, Väter waren meist abwesend oder unterdrückt worden. Der Mörder hatte nie eine männliche Leitfigur gehabt, jedenfalls nicht im positiven Sinne.
Es mochte ein oder zwei jüngere Geschwister geben – weiblich, schätzte Scheib, die dem Mörder stets vorgezogen worden waren, für die er schon als Heranwachsender Verantwortung übernehmen musste, weil es der Mutter an Zeit fehlte. Sie war berufstätig und verlangte vom Sohn Unterstützung, zwang ihn früh in einen ungeliebten Beruf, um die Lebensqualität der gesamten Familie zu verbessern. Im Gegensatz zu ihm durften seine Schwestern später auswählen und sich Zeit lassen, weil die Mutter ihre Töchter unabhängig machen wollte.
Darin sah Scheib das Motiv. Die Fixierung auf den 14. September musste ihren Grund in einem gravierenden Ereignis haben. Welcher Art das gewesen sein könnte, da hatte er allerdings noch nicht die geringste Vorstellung. Auch den Zweijahresrhythmus konnte er sich nicht erklären, aber im September 1994 würde es das nächste Mal passieren, da war er sicher.
Vergangenheitsbewältigung
Während Thomas Scheib seine Theorie und ein erstes Täterprofil entwickelte, überall auf Ablehnung oder Widerstand stieß und mit einem Gefühl von Ohnmacht dem Spätsommer entgegensah, packte Karen ihre Sachen, um nach Köln zu ziehen. Das war im Frühjahr 1994. Ihr Vater war der Einzige, der ihr Glück wünschte. Norbert meinte, sie mache den Fehler ihres Lebens. Und Christa geriet völlig außer sich.
Marko Stichler war nicht der Schwiegersohn, den Christa sich wünschte. Dass er zehn Jahre älter war als Karen, störte sie nicht. Ältere Männer hielt sie für reifer und verständiger. Aber die Verhältnisse in der Familie Stichler fand sie unmöglich.
Markos Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Sein Vater hatte ihn bei einer unverheirateten Großtante in der Eifel abgeliefert. Als Marko drei Jahre alt war, heiratete sein Vater zum zweiten Mal, ein Model!
Margo hieß eigentlich Margot und hatte nur in jungen Jahren ein paar Mal in der Provinz auf einem Laufsteg gestanden und für Versandhauskataloge posiert. Margo brachte eine uneheliche Tochter mit in die Ehe, Rabea. Merkwürdiger Name für ein Mädchen, fand Christa. Rabea war ein Jahr jünger gewesen als Marko und 1979 im Alter von sechzehn Jahren gestorben. Um die Todesursache wurde ein Geheimnis gemacht, sodass man zwangsläufig auf komische Gedanken kam: vielleicht Aids, damit hatte es ja damals begonnen, und Rabeas Vater war ein Farbiger gewesen.
Von Markos Vater hatte Margo 1975 noch eine Tochter bekommen, Jona, auch kein vernünftiger Name für ein Mädchen, fand Christa. Ein halbes Jahr nach Rabeas Tod hatte Markos Vater Frau und Sohn verlassen und die kleine Jona mit nach Italien genommen.
Das waren doch keine Zustände. Jona hätte zur Mutter gehört und Marko zum Vater.
Erschwerend hinzu kam, dass Marko keinen seriösen Beruf ausübte. Freiberuflicher Fotograf! Von freiberuflich konnte schon mal gar nicht die Rede sein, auch wenn er
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