Das Letzte Protokoll
hören.
Sie hatte so viel Wind-Song-Parfüm aufgelegt, dass sogar die Bienen sie attraktiv fanden.
Und Peter stellte die leere Leinwand auf ihre Staffelei. Er sa g te: »Maura Kincaid hat nie eine Scheißkunstakademie besucht.« Er spuckte einen Batzen grünen Schleim aus, pflückte einen neuen Grashalm und schob ihn sich in den Mund. Mit grünen Flecken auf der Zunge sagte er: »Ich wette, wenn du malen würdest, was in dir vorgeht, kön n test du damit ins Museum kommen.«
Was in ihr vorgehe, sagte Misty, sei nur albernes Zeug.
Und Peter sah sie bloß an. Er sagte: »Aber was hat es für einen Sinn, etwas zu malen, was man nicht liebt?«
Was sie liebe, erklärte Misty, dafür gebe es keinen Markt. Das würden die Leute nicht kaufen.
Und Peter sagte: »Vielleicht würdest du da aber auch eine Überraschung erleben.«
Es folgt Peters Theorie des Selbstausdrucks. Das Paradox des professionellen Künstlers. Wir verbringen unser L e ben damit, uns gut auszudrücken, haben aber nichts zu erzählen.
Wir wollen, dass Kreativität etwas mit Ursache und Wi r kung zu tun hat. Wir wollen Ergebnisse. Produkte, die wir vermarkten können. Wir wollen, dass Hingabe und Disziplin von Anerke n nung und Belohnung aufgewogen werden. Wir steigen in die Tretmühle des Kunststudiums, wir streben einen ordentl i chen akademischen Abschluss an und üben, üben, üben. Mit hervo r ragenden technischen Fähigkeiten ausgestattet, haben wir nichts Besonderes zu dokumentieren. Peter zufolge stinkt einem nichts so sehr, als wenn irgendein durchgeknallter Drogensüchtiger, irgendein Penner oder Perverser ein Meisterwerk zustande bringt. Wie durch Zufall.
Irgendwelche Idioten, die sich nicht zu sagen scheuen, was sie wirklich lieben.
» Platon «, sagt Peter und wendet sich ab, um grünen Rotz ins Gras zu spucken. »Platon hat gesagt: >Wer sich uni n spiriert dem Tempel der Musen nähert, indem er glaubt, handwerkliches Können allein reiche aus, wird immer ein Pfuscher bleiben, und seine anmaßende Dichtung wird von den Liedern der Geiste s kranken in den Schatten g e stellt werden.<«
Er nahm den nächsten Grashalm in den Mund und kaute. Er sagte: »Was also macht Misty Kleinman zu einer Geisteskra n ken?«
Ihre Fantasiehäuser und Pflasterstraßen. Ihre Möwen, die über den Austernbooten kreisend von Bänken zurückkehrten, die Misty nie gesehen hatte. Die Fensterkästen überquellend von Löwenmäulchen und Zinnien. Auf a b solut gar keinen Fall würde sie di e sen Scheiß malen.
»Maura Kincaid«, sagt Peter, »hat erst zum Pinsel gegri f fen, als sie einundvierzig war.« Er nahm ein paar Pinsel aus dem hellen Holzkasten und drehte die Borsten spitz zusammen. Er sagte: »Maura hat einen braven Zimme r mann von Waytansea Island geheiratet und zwei Kinder von ihm bekommen.« Er nahm die Farbtuben heraus und legte sie zu den Pinseln auf die Decke.
»Sie hat erst angefangen, nachdem ihr Mann gestorben war«, sagte Peter. »Maura wurde krank, richtig krank. Schwindsucht oder so was. Damals war man mit einundvierzig eine alte D a me.«
Erst als eines ihrer Kinder starb, sagte er, hat Maura Ki n caid ihr erstes Bild gemalt. Er sagte: »Vielleicht muss man erst richtig le i den, bevor man es wagen kann, das zu tun, was man wirklich will.«
Das alles hast du Misty erzählt.
Du hast gesagt, Michelangelo sei manisch-depressiv g e wesen und habe sich beim Malen selbst als gehäuteten Märtyrer portr ä tiert. Henri Matisse habe seinen Anwaltsberuf wegen einer Blinddarmentzündung aufgegeben. Robert Schumann habe erst zu komponieren angefangen, als er, weil seine rechte Hand g e lähmt war, seine Karriere als Konzertpianist aufgeben musste.
Du hast in deiner Tasche gewühlt, als du das gesagt hast. Du hast da etwas herausgezogen.
Du hast von Nietzsche und seiner tertiären Syphilis gespr o chen. Von Mozart und seiner Urämie. Von Paul Klee und der Sklerodermie, die seine Gelenke und Muskeln tödlich hat schrumpfen lassen. Von Frida Kahlo und der Spina bifida und ihren offenen Beinen. Von Lord Byron und seinem Klumpfuß. Von den Bronte-Schwestern und ihrer Tuberkulose. Von Mark Rothko und seinem Selbs t mord. Von Flannery O'Connor und ihrem Lupus. Inspiration braucht Krankheit, Verletzung, Wah n sinn.
»Nach Thomas Mann«, sagte Peter, »sind große Künstler gr o ße Kranke.«
Und dann hast du etwas auf die Decke gelegt. Mitten zwischen den Farbtuben und Pinseln lag plötzlich eine große Strassbr o sche. Groß wie ein Silberdollar,
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