Das Letzte Protokoll
Gesicht gehoben. Die Hände zu Fäusten geballt, gebr a ten von der Hitze des Feuers. Ve r kohlte schwarze Boxer. Das Buch heißt Forensische Bran d forschung.
Nur um das festzuhalten: Das Wetter heute ist nervöser Ekel mit zögernder Besorgnis.
Mrs. Terrymore blickt von ihrem Schreibtisch auf. Misty sagt zu Tabbi: »Stell das zurück.«
Heute in der Bibliothek, in der Kunstabteilung, streicht deine Frau mit der Hand über die Nachschlagewerke. Sie schlägt i r gendeines der Bücher auf, und da steht, dass, wenn ein Küns t ler einen Spiegel benutzte, um ein Abbild auf seine Leinwand zu werfen, dieses Abbild spiegelve r kehrt war. Das ist der Grund, warum auf so vielen Bildern alter Meister alle Leute Linkshänder sind. Wenn sie eine Linse benutzten, stand das Abbild auf dem Kopf. Egal, wie sie zu dem Abbild kamen, es war immer verzerrt. In di e sem Buch zeigt ein alter Holzschnitt einen Künstler, der ein projiziertes Abbild nachzeichnet. Auf die Seite hat jemand g e schrieben: »Das kannst du mit deinem Kopf machen.«
Vögel markieren ihr Revier mit Gesang. Hunde mit Pi n keln.
Es ist das Gleiche wie an der Unterseite des Tischs im Gold e nen Salon, Maura Kincaids Botschaft aus dem Reich der Toten: »Nimm irgendein Buch aus der Bücherei«, hat sie g e schrieben.
Ihre Nachwirkung in Bleistift. Ihre hausgemachte Unsterblic h keit.
Diese neue Botschaft ist mit Constance Burton unte r schrieben.
»Das kannst du mit deinem Kopf machen.«
Aufs Geratewohl nimmt Misty ein anderes Buch und schlägt es irgendwo auf. Es ist ein Werk über den hervorragenden französ i schen Kupferstecher Charles Meryon, der an Schizophrenie e r krankte und in einer Anstalt starb. Eines seiner Bilder zeigt das französische Marineministerium, ein klassisches Ba u werk mit hohen Säulen; auf den ersten Blick wirkt es ganz normal, bis man am Himmel einen Schw a rm von Ungeheuern bemerkt.
Und in den Wolken über den Ungeheuern steht mit Bleistift g e schrieben: »Wir sind ihr Köder und ihre Falle.« Unterschrift: Maura Kincaid.
Die Augen geschlossen, streicht Misty mit den Fingern über die Buchrücken im Regal. Sie fühlt Leder, Papier und Leinen und zieht dann, ohne hinzusehen, ein Buch heraus und lässt es in i h rer Hand aufklappen.
Francisco Goya, vergiftet von dem Blei in seinen hellen Fa r ben. Farben, die er mit Fingern und Daumen auftrug, bis er sich eine von Blei ausgelöste Enzephalopathie z u zog, die in seinem Fall zu Taubheit, Depressionen und Wahnsinn führte. Auf der Seite ist ein Gemälde abgebi l det: Der Gott Saturn, der seine Kinder frisst - düsteres Schwarz um einen glupschäugigen Riesen, der einem kopflosen Körper die Arme abbeißt. An den weißen Rand dan e ben hat jemand geschrieben: »Wenn du das gefunden hast, kannst du dich noch retten.«
Unterschrift: Constance Burton.
Im nächsten Buch porträtiert sich der französische Maler Wa t teau als blassen, ausgemergelten Gitarrespieler, der wie er selbst im wirklichen Leben an Tuberkulose starb. Auf dem blauen Himmel über ihm steht geschrieben: »Male ihnen nicht ihre Bi l der.« Unterschrift: Constance Burton.
Um sich zu testen, geht deine Frau quer durch die B ü cherei an der alten Bibliothekarin vorbei, die sie durch ihre kleine, runde schwarze Drahtbrille beobachtet. U n term Arm trägt Misty die Bücher über Watteau, Goya, die Camera obscura, alle aufg e schlagen und ineinander g e schoben. Tabbi blickt von ihrem mit Kinderbüchern bel a denen Tisch auf. In der Li teraturabteilung streicht Misty wiederum mit geschlossenen Augen über die alten Buc h rücken. Irgendwo bleibt sie stehen und zieht eines heraus.
Es ist ein Buch über Jonathan Swift, darüber, wie die Meniere-Krankheit sein Leben zerstörte, indem er taub wurde und z u dem ständig an Schwindelgefühlen litt. In seiner Verbitterung schrieb er finstere Satiren wie Gullivers Reisen und Ein bescheidener Vo r schlag, worin er den Briten empfahl, wenn sie überleben wollten, sollten sie die zunehmende Masse irischer Kinder ve r speisen. Sein bestes Buch.
Das Buch öffnet sich auf einer Seite, an deren Rand jemand g e schrieben hat: »Sie werden dich alle Kinder Gottes töten la s sen, um die eigenen zu retten.« Unterschrift: Maura Kincaid.
Deine Frau klemmt dieses neue Buch in das vorige und macht wieder die Augen zu. Die Bücher unterm Arm, ta s tet sie nach dem nächsten Buch. Misty streicht mit den Fingern über die Buchrücken. Die Augen geschlossen, geht sie einen Schritt nach
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