Das Letzte Protokoll
vorn - und stößt an eine weiche Wand, die nach Talkumpuder riecht. Sie öffnet die Augen und sieht dunkelroten Lippenstift in einem weiß gepuderten Gesicht. Über einer Stirn eine grüne Mütze, darunter graues Lockenhaar. Auf der Mütze steht: »Ein Anruf bei 1-800-555-1785, und Sie sind alle Sorgen los.« Daru n ter eine schwarze Drah t brille. Ein Tweedkostüm.
»Entschuldigen Sie«, sagt jemand, und es ist Mrs . Terr y more, die Bibliothekarin. Sie steht mit verschränkten A r men vor ihr.
Und Misty macht einen Schritt zurück.
Der dunkelrote Lippenstift sagt: »Schieben Sie die B ü cher nicht so ineinander. Davon gehen sie kaputt.«
Die arme Misty, sie sagt, dass es ihr Leid tue. Immer die A u ßenseiterin, geht sie los, um die Bücher auf einem Tisch abzul e gen.
Und Mrs. Terrymore lässt ihre Krallenhände spielen und sagt: »Bitte, lassen Sie mich die wieder einordnen. Bitte.«
Misty sagt, noch nicht. Sie sagt, sie möchte erst noch etwas nachsehen, und als die zwei Frauen um den Bücherstapel ra n geln, rutscht ein Buch heraus und fällt flach auf den Boden. Laut wie eine Backpfeife. Es schlägt von allein auf, und da kann man lesen: »Male ihnen nicht ihre Bi l der.«
Und Mrs. Terrymore sagt: »Das sind leider alles Nachschlag e werke.«
Und Misty sagt: »Nein, sind sie nicht. Kein einziges. Da steht: >Wenn du das gefunden hast, kannst du dich noch retten < «
Die Bibliothekarin sieht das durch ihre schwarze Drahtbrille und sagt: »Immer mehr Beschädigungen. Jahr für Jahr.« Sie schaut nach der großen Uhr in dem dunklen Walnussgehäuse und sagt: »Verzeihen Sie, aber wir haben heute früher geschlo s sen.« Sie vergleicht ihre Armban d uhr mit der großen Uhr und sagt: »Wir h a ben seit zehn Minuten geschlossen.«
Tabbi hat ihre Bücher bereits abstempeln lassen. Sie wa r tet am Ausgang und ruft: »Beeil dich, Mama. Du musst zur Arbeit.«
Und mit einer Hand fährt die Bibliothekarin in die Tasche i h res Tweedkostüms und zieht einen großen rosa Radiergummi he r vor.
7. Juli
Die bunten Fenster der Inselkirche - die kleine Misty Marie Kleinman vom weißen Südstaatengesindel konnte sie schon m a len, noch ehe sie lesen und schreiben konnte. Noch ehe sie übe r haupt einmal buntes Glas gesehen hatte. Sie war noch nie in e i ner Kirche gewesen, in keiner einz i gen. Die gottlose kleine Misty Kleinman konnte die Gra b steine auf dem Dorffriedhof draußen auf der Landspitze von Waytansea schon malen, die Daten und Grabschriften schon zeichnen, noch ehe sie wusste, dass dies Zahlen und Worte waren.
Jetzt sitzt sie hier im Gottesdienst und kann sich kaum eri n nern, was sie sich früher dabei gedacht und damals, nachdem sie dor t hin gekommen war, wirklich gesehen hat. Das violette Altartuch. Die dicken, schwarz gefirnis s ten Holzbalken.
Genau, wie sie es sich als Kind vorgestellt hatte. Obwohl das unmöglich ist.
Neben ihr in der Kirchenbank kniet Grace und betet. Und n e ben Grace kniet Tabbi. Mit gefalteten Händen.
Grace hat die Augen geschlossen, ihre Lippen murmeln in i h re Hände. Sie sagt: »Bitte lass meine Schwiegertochter zu der Kunst zurückfinden, die sie liebt. Bitte lass nicht zu, dass sie das herrl i che Talent vergeudet, mit dem Gott sie gesegnet hat...«
Die ganzen alten Inselfamilien murmeln im Gebet.
Hinter ihnen flüstert jemand: »... bitte, Herr, gib Peters Frau, was sie braucht, um ihr Werk anfangen zu kö n nen . ..«
Eine andere Stimme, die von der alten Petersen, betet: »... m ö ge Misty uns retten, bevor die Auswärtigen uns noch schli m mer kommen . ..«
Sogar Tabbi, deine eigene Tochter, flüstert: »Gott, bitte mach, dass meine Mama das geregelt kriegt und wieder zu malen a n fängt...«
Um Misty herum kniet das ganze Wachsfigurenkabinett von Waytansea Island. Die Tuppers und Burtons und Niemans , sie alle haben die Augen geschlossen und die Finger verknotet, und sie alle beten zu Gott, dass er Misty wieder zum Malen bringt. Sie alle glauben, dass sie ein geheimes Talent zu ihrer Rettung b e sitzt.
Und Misty, deine arme Frau, der einzige geistig gesunde Mensch hier, will einfach nur - tja, sie will einfach nur was zu trinken.
Ein paar Drinks. Ein paar Aspirin. Und wieder von vorn.
Am liebsten würde sie schreien, dass die endlich mit ihren gottverdammten Gebeten aufhören sollen.
Wenn du die Lebensmitte erreicht hast und siehst, dass du ni e mals, wie du es dir immer erträumt hast, der große, berüh m te Künstler werden und etwas malen wirst,
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