Das Letzte Protokoll
reiche Sommerfrau gehört, ein braun gebranntes Skelett in einem pa s tellfarbenen, ärmellosen Kleid aus Strickseide, die hat beim Lunch gesagt: »Was nützt einem der Reichtum hier, wenn es nichts zu kaufen gibt?«
Seit Grace das gehört hat, hetzt sie deine Frau, wieder mit dem Malen anzufangen. Den Leuten etwas zu geben, was sie unb e dingt haben wollen. Als ob Misty sich einfach so ein Mei s terwerk aus dem Hintern ziehen könnte, um so das Familie n vermögen der Wilmots zurückzuverdienen.
Als ob sie damit die ganze Insel retten könnte.
Tabbis Geburtstag steht bevor, die große Dreizehn, und es ist kein Geld für Geschenke da. Misty spart ihr Trin k geld, bis sie genug zusammen hat, dass sie wieder nach Tecumseh Lake z u rückgehen können. Sie können nicht ewig im Hotel W a ytansea leben. Reiche Leute fressen die Insel bei lebendigem Leibe, und sie will nicht, dass Tabbi, von reichen Jungen mit Drogen b e drängt, in ärmlichen Verhältnissen aufwächst.
Misty glaubt, dass sie am Ende des Sommers weg kö n nen. Was aus Grace werden soll, weiß sie nicht. Deine Mutter muss doch Freunde haben, bei denen sie wohnen kann. Und die Kirche, die kann ihr immer helfen. Der kirchliche Damenverein.
Hier in der Kirche sind sie von Heiligen aus buntem Glas u m geben, die allesamt von Pfeilen durchbohrt, von Messern aufg e schlitzt sind und auf Scheiterhaufen brennen, und jetzt denkt Misty an dich. An deine Theorie, dass Leiden zu göttlicher Insp i ration führe. An deine Geschichten von Maura Kincaid .
Wenn Unglück zu Inspiration führt, müsste Misty ihre besten Jahre noch vor sich haben.
Die ganze Insel kniet um sie herum und betet, dass sie wieder malen soll. Dass sie die Insel retten soll.
Mit den Heiligen um sich herum, die inmitten ihrer Schmerzen lächelnd ihre Wunder wirken, greift Misty nach einem Gesan g buch. Es ist eines von Dutzenden staubiger alter Gesan g bücher; manchen fehlt der Umschlag, aus manchen hängt ein zerfranstes Lesebändchen. Sie nimmt irgendeine davon und schlägt es auf. Und: nichts.
Sie blättert, aber da ist nichts. Nur Gebete und Lieder. Keine b e sonderen geheimen Botschaften, die da jemand hineingeschri e ben hätte.
Als sie es jedoch zurücklegen will, steht dort, zuvor von dem Buch verborgen, ins Holz der Bank geschnitzt: »Ve r lass diese Insel, bevor du es nicht mehr kannst.«
Unterschrift: Constance Burton.
8. Juli
Bei ihrem fünften Rendezvous rahmte Peter das Bild, das Misty gemalt hatte.
Du, Peter, hast zu Misty gesagt: »Das. Dieses Bild. Das wird mal in einem Museum hängen.«
Das Bild, ein Landschaftsgemälde, zeigte ein Haus, rundum von einer Veranda umgeben, im Schatten von Bäumen. Spitze n vorhänge an den Fenstern. Rosen hinter einem weißen Latte n zaun. Vögel, die in der Sonne blau schimmern. Gekräuselter Rauch aus dem Schornstein. Misty und Peter waren in einem Rahmengeschäft in der Nähe des Campus, und sie stand mit dem Rücken zum Schaufenster, um notfalls zu verhindern, dass jemand herei n schaute.
Misty und du.
Versperrte die Sicht, damit niemand ihr Bild sehen kon n te.
Am unteren Rand, unter dem Lattenzaun, stand ihre Signatur: Misty Marie Kleinman. Fehlte nur noch ein lächelndes Gesicht. O der ein Herz als i-Punkt in Kleinman.
»Ja, in einem Kitschmuseum vielleicht«, sagte sie. Das hier war bloß eine bessere Version dessen, was sie seit ihrer Kindheit g e malt hatte. Ihr Fantasiedorf. Und der A n blick war schlimmer als das schlimmste, fetteste Aktbild, das man je von sich selbst ges e hen hatte: das banale kleine Herz von Misty M a rie Kleinman. Die honigsüßen Träume der armen einsamen Sechsjährigen, die sie für den Rest ihres Lebens bleiben würde. Ihre jämmerliche hü b sche Seele aus Talmi.
Das banale kleine Geheimnis dessen, was sie glücklich mac h te.
Misty schaute immer wieder über die Schulter, um sicher zu gehen, dass niemand hereinsah. Niemand sah den klischeeha f testen, ehrlichsten Teil von ihr, der hier in Wasserfarben darg e stellt war.
Peter, Gott segne ihn, schnitt das Passepartout aus und legte das Bild genau in die Mitte.
Du hast das Passepartout geschnitten.
Peter stellte die Gehrungssäge auf die Werkbank des Ladens und sägte die vier Teile des Rahmens zurecht. Er l ä chelte, als er das Bild besah, das heißt, eine Gesichtshälfte lächelte, der Zygomaticus major zog ihm einen Mun d winkel nach oben. Und er hob auf derselben Seite die Augenbraue. Er sagte: »Das V e randageländer hast du perfekt
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