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Das Letzte Protokoll

Das Letzte Protokoll

Titel: Das Letzte Protokoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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alles in bissfertige Häppchen. Misty arbeitet einfach weiter, und Tabbi schiebt ihr die Bissen mit der Gabel in den Mund. Mit ihrem zugeklebten Gesicht kann Misty den Mund nicht sehr weit aufmachen. Es reicht g e rade, dass sie den Pinsel mit den Lippen zu einer Spitze drehen kann. Dass sie sich vergi f ten kann. Solange sie arbeitet, schmeckt sie nichts. Riecht sie nichts. Nach w e nigen Bissen hat sie genug gefrühstückt.
    Vom Schaben des Stifts auf dem Papier abgesehen, ist es im Zimmer still. Draußen, fünf Etagen tiefer, rauschen und br e chen die Ozeanwellen.
    Mittags bringt Paulette wieder etwas zu essen, aber Misty rührt kaum etwas an. Schon fühlt sich der starre Verband um ihr Bein ganz locker an, so viel Gewicht hat sie verloren. Zu viel feste Nahrung würde sie zum Aufs u chen der Toilette zwingen. Zur Unterbrechung ihrer A r beit. Auf dem Verband ist kaum noch ein weißes Fleckchen übrig, Tabbi hat ihn fast vollständig mit Bl u men und Vögeln bemalt. Ihr Kittel ist steif von Far b spritzern. Klebt ihr steif an Armen und Brüsten. Ihre Hände sind mit ang e trockneter Farbe überkrustet. Vergiftet.
    Ihre Schultern schmerzen und knacken, in ihren Handg e lenken knirscht es. Ihre tauben Finger halten einen Kohlestift. Ihr N a cken ist links und rechts der Wirbelsäule verspannt. Ihr Hals fühlt sich so an, wie Peters Hals aussieht: weit, fast bis zum Hi n tern zurückgebogen. Ihre Handg e lenke fühlen sich so an, wie die von Peter aussehen: ve r dreht und verknotet.
    Die Augen zugeklebt. Das Gesicht entspannt, damit die be i den Klebstreifen nicht so ziehen, die ihr von der Stirn über A u gen und Wangen und Unterkiefer bis zum Hals gehen. Das Kleb e band sorgt dafür, dass die Orbicularis-oculi-Muskeln um die Augen, die Zygomaticus-major-Muskeln an den Mundwinkeln, dass alle ihre Gesicht s muskeln entspannt bleiben. Das Klebeband sorgt dafür, dass Misty die Lippen nur einen Spal t breit öffnen kann. Dass sie nur flüstern kann.
    Tabbi steckt ihr einen Strohhalm in den Mund, und Misty saugt etwas Wasser. Tabbis Stimme sagt: »Egal, was passiert, Omi sagt, du musst weiter deine Bilder malen.«
    Tabbi wischt ihrer Mutter den Mund ab und sagt: »Ich muss jetzt gleich gehen.« Sie sagt: »Bitte hör nicht auf, egal, wie sehr du mich vermissen wirst.« Sie sagt: »Ve r sprochen?«
    Und ohne die Arbeit zu unterbrechen, flüstert Misty: »Ja.«
    »Egal, wie lange ich weg bin?«, sagt Tabbi.
    Und Misty flüstert: »Versprochen.«

5. August
    Dass du müde bist, bedeutet nicht, dass du fertig bist. Dass du Hunger und Schmerz empfindest, auch nicht. Dass du pinkeln musst, darf dich nicht aufhalten. Ein Bild ist fertig, wenn Stift und Pinsel fertig sind. Das Telefon stört nicht. Nichts lenkt dich ab. Solange die Ideen ko m men, machst du weiter.
    Blind arbeitet Misty den ganzen Tag, und als der Stift schlie ß lich anhält, wartet sie, dass Tabbi das Bild abnimmt und ihr e i nen ne u en Bogen Papier gibt. Es tut sich aber nichts.
    Und Misty sagt: »Tabbi?«
    Am Morgen hatte Tabbi ihrer Mutter eine große Brosche mit grünen und roten Glasklunkern an den Kittel geheftet. Dann hielt Tabbi still, als Misty ihrer Tochter die schi m mernde Kette aus d i cken rosa Strasssteinen um den Hals legte. Eine Statue. Die Sonne schien durchs Fenster, und die Steine funkelten wie Ve r gissmeinnicht und all die anderen Blumen, die Tabbi in di e sem Sommer nicht gesehen hat. Dann klebte Tabbi ihrer Mutter die Augen zu. Seither hatte Misty sie nicht mehr gesehen.
    Und wieder sagt Misty: »Tabbi?«
    Kein Geräusch, nichts. Nur das Rauschen und Brechen der We l len am Strand. Misty tastet mit gespreizten Fi n gern in der Luft herum. Zum ersten Mal seit Tagen hat man sie allein gela s sen.
    Die zwei Streifen Klebeband beginnen an ihrem Haaransatz und laufen über die Augen bis unter den Kieferkn o chen.
    Misty packt die Streifen am oberen Ende mit Daumen und Ze i gefinger beider Hände und schält sie langsam ab, zieht sie ab. Ihre Augen flattern auf. Die Sonne ist so hell, dass sie kaum e t was erkennen kann. Das Bild auf der Staffelei ist nur ein ve r schwomm e ner Fleck, bis die Augen sich nach einer Minute auf die neuen Verhältnisse eing e stellt haben.
    Die Bleistiftlinien werden deutlich, erscheinen schwarz auf dem weißen Papier.
    Die Zeichnung zeigt den Ozean, nicht weit vom Strand. Da schwimmt etwas. Ein Mensch treibt mit dem Gesicht nach unten im Wasser, ein junges Mädchen, das lange schwarze Haar im Wa s ser

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