Das Letzte Protokoll
eine Hand über die Augen und blickte zum Hotel hinauf, mu s terte jedes einzelne Fenster, sah sie aber nicht. Dann fuhr er d a von.
Die Farben auf dem Bild vor ihr sind verschmiert und verla u fen. Die Bäume könnten auch Sendemasten sein. Der Ozean könnte auch Lava oder kalter Schokolade n pudding oder einfach verschwendete Aquarellfarbe im Wert von sechs Dollar sein. Misty reißt das Blatt ab und knüllt es zu einem Ball. Ihre Hände sind schwarz, so viele missratene Bilder hat sie heute schon z u sammengeknüllt. Sie hat Kopfschmerzen. Misty schließt die A u gen, und als sie eine Hand an die Stirn presst, fühlt sie die feuc h te Fa r be, die da klebt.
Sie wirft das zerknüllte Bild auf den Boden.
Und Tabbi sagt: »Mama?«
Misty macht die Augen auf.
Tabbi hat den Verband mit Vögeln und Blumen bemalt. Blaue und rote Vögel und rote Rosen.
Als Paulette ihnen auf einem Zimmerservicewagen das Essen bringt, fragt Misty, ob jemand versucht hat, sie vom Empfang aus anzurufen. Paulette schüttelt die Stoffserv i ette aus und stopft sie Misty in den Kragen des blauen Arbeitshemds. Sie sagt: »Le i der nein.« Sie nimmt den D e ckel von einem Teller mit Fisch und sagt: »Warum fragst du?«
Und Misty sagt: »Einfach so.«
Jetzt sitzt sie hier mit Tabbi, Blumen und Vögel auf i h rem Bein, und weiß, dass sie niemals eine Künstlerin sein wird. Das Bild, das sie Angel verkauft hat, war ein Glückstreffer. Ein Z u fall. Statt zu weinen, pinkelt Misty bloß ein paar Tropfen in ihren Plasti k schlauch.
Und Tabbi sagt: »Mach die Augen zu, Mama.« Sie sagt: »Du musst mit geschlossenen Augen malen, so wie bei meinem G e burtstagspicknick.«
Wie damals, als sie die kleine Misty Marie Kleinman g e wesen war. Mit geschlossenen Augen auf dem Zottelteppich im Woh n wagen.
Tabbi beugt sich zu ihr heran und flüstert: »Wir haben uns zw i schen den Bäumen versteckt und dir zugesehen.« Sie sagt: »Omi hat gesagt, wir müssen dir Zeit geben, dass dir was ei n fällt.«
Tabbi geht zur Kommode und holt das Abdeckband, mit dem Misty immer das Papier an der Staffelei befestigt. Sie reißt zwei Streifen ab und sagt: »Jetzt mach die Augen zu.«
Misty hat nichts zu verlieren. Den Gefallen kann sie i h rem Kind schon tun. Schlimmer können ihre Bilder nicht werden. Misty schließt die Augen.
Und Tabbis kleine Finger drücken ihr über jedes Augenlid e i nen Klebstreifen.
So wie die Augen ihres Vaters zugeklebt sind. Damit sie nicht austrocknen.
Deine Augen sind zugeklebt.
Im Dunkeln legen Tabbis Finger Misty einen Bleistift in die Hand. Man hört sie einen Skizzenblock auf die Staff e lei stellen und das Deckblatt zurückschlagen. Dann nimmt sie Misty bei der Hand und führt ihr den Bleistift, bis er das Papier berührt.
Die Sonne scheint warm durchs Fenster. Tabbi lässt Mistys Hand los, und ihre Stimme im Dunkeln sagt: »Jetzt mal ein Bild.«
Und Misty zeichnet: die perfekten Kreise und Winkel, die ger a den Striche, die laut Angel Delaporte gar nicht möglich sind. Nur nach Gefühl, und alles ist vollkommen. Wie das kommt, kann Misty nicht sagen. So wie ein Griffel sich über ein O uija-Brett b e wegt, führt der Bleistift ihre Hand so schnell auf dem Papier herum, dass Misty ihn richtig festhalten muss. Ihr aut o matisches Schreiben.
Misty kann den Stift gerade noch festhalten. Sie sagt: »Tabbi?«
Das Klebeband auf den Augen, sagt Misty: »Tabbi? Bist du noch da?«
2. August
Es gibt einen kleinen Ruck zwischen Mistys Beinen, ein leic h tes Ziehen in ihrem Unterleib, als Tabbi den Beutel am Ende des K a theters abmacht und durch den Flur zur Toilette bringt. Sie kippt den Inhalt ins Klo und spült den Beutel aus. Dann bringt sie ihn zurück und stöpselt ihn wieder an den Plasti k schlauch.
Das alles tut sie, damit Misty in ihrer Finsternis weite r arbeiten kann. Mit zugeklebten Augen. Blind.
Nur das Gefühl der warmen Sonne, die durchs Fenster scheint. Sobald der Pinsel stehen bleibt, sagt sie: »Das ist fertig.«
Und Tabbi nimmt die Zeichnung von der Staffelei und heftet den nächsten Bogen an. Wenn der Bleistift stumpf geworden ist, gibt sie ihr einen spitzen. Sie hält Misty eine Schale mit Pastel l stiften hin, und Misty tastet blind über diese bunte fettige Klavi a tur und wählt einen aus.
Nur um das festzuhalten: Jede Farbe, die Misty auswählt, jeder Strich, den sie zieht, ist perfekt, weil sie das Nachdenken aufg e geben hat.
Das Frühstück bringt Paulette auf einem Tablett, und Tabbi schneidet
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