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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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wusste, dass er mir damit eins auswischen konnte. Es gibt Leute, bei denen ist nichts zu machen.
    Die einfach missraten geboren werden. Ich kann es nicht erklären. Doris und ich taten alles für den Jungen. Wir haben ihn sogar auf eine Militärschule geschickt, aber das war ein Fehler. Es gefiel ihm dort, er mochte die Schinderei, er quälte gern die anderen Jungs. Niemand hat dort auf ihm herumgehackt, nicht einmal am ersten Tag. Er war kräftig wie ich und so verdammt gemein, dass die anderen Kinder sich nicht trauten, ihm auch nur ein Haar zu krümmen.«
    »Das ist nicht richtig«, murmelt Anna, als sie sich wieder auf die Ottomane setzt.
    »Was ist Rockys Motiv, diesen Fall zu übernehmen?« Ich weiß, was Berger vermutet hat, aber ich will Marinos Version hören. »Um dir mal wieder eins auszuwischen?«
    »Er ist geil auf die Aufmerksamkeit. So ein Fall ist ein gefundenes Fressen für die Medien.« Marino scheint das nahe Liegende nicht aussprechen zu wollen, nämlich dass Rocky seinen Vater demütigen, über ihn triumphieren will. »Hasst er Sie?«, fragt MacGovern. Marino schnaubt wieder, und sein Pager vibriert. »Was wurde aus ihm?«, frage ich. »Du hast ihn auf eine Militärschule geschickt und dann?«
    »Ich habe ihn rausgeschmissen. Habe ihm gesagt, wenn er sich nicht an die Regeln halten will, die in diesem Haus gelten, dann kann er nicht mehr unter meinem Dach leben. Das war nach seinem ersten Jahr auf der Militärschule. Und wisst ihr, was der kleine Psychopath getan hat?« Marino liest die Nachricht auf seinem Pager und steht auf. »Er ist nach Jersey gezogen, zu Onkel Louie, dem verdammten Mafioso. Und dann besitzt er die Unverschämtheit, hierher zurückzukommen und a n der William & Mary Jura zu studieren. Ja, er ist gerissen.«
    »Er hat seine Ausbildung in Virginia gemacht?«, frage ich. »Ja, und praktiziert hat er hier auch. Ich habe Rocky seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen. Anna, darf ich Ihr Telefon benutzen? Ich möchte das nicht mit dem Handy erledigen« Er wirft mir einen Blick zu, als er aus dem Wohnzimmer geht. »Es ist Stanfield.«
    »Was war mit der Identifizierung, derentwegen er dich heute Abend angerufen hat?«, frage ich.
    »Darum wird es jetzt hoffentlich gehen«, sagt Marino. »Wieder so eine merkwürdige Sache, falls es stimmt.«
    Während er telefoniert, verlässt auch Anna das Wohnzimmer. Ich nehme an, dass sie auf die Toilette gegangen ist, aber sie kommt nicht wieder, und ich kann mir vorstellen, wie sie sich fühlt. In vieler Beziehung mache ich mir mehr Sorgen um sie als um mich. Ich weiß genug über ihr Leben, um ihre große Verletzlichkeit und die schrecklich brachen, vernarbten Stellen auf ihrer psychischen Landschaft zu kennen. »Es ist nicht fair.« Ich verliere langsam die Fassung. »Allen gegenüber ist es einfach nicht fair.« Alle Last, die sich mir aufgebürdet hat, beginnt sich zu bewegen und bergab zu gleiten. »Sag mir mal jemand, wie das passieren konnte. Habe ich in einem früheren Lebens was Unrechtes getan? Ich verdiene es nicht. Niemand von uns verdient es.«
    Lucy und McGovern hören zu, wie ich Luft ablasse. Sie scheinen ihre eigenen Vorstellungen und Pläne zu haben, rücken jedoch nicht damit heraus.
    »Also, sagt schon was«, fahre ich sie an. »Na los, lasst es raus.« Ich rede hauptsächlich zu meiner Nichte. »Mein Leben ist ruiniert. Ich habe nichts so gehandhabt, wie ich es hätte sollen. Tut mir Leid.« Tränen drohen. »Im Augenblick will ich nur eine Zigarette. Hat jemand eine Zigarette?« Marino hat welche, aber er telefoniert in der Küche, und ich habe keine Lust , hineinzukriechen und ihn wegen einer Zigarette zu unterbrechen, als ob ich wirklich eine brauchte. »Wisst ihr, was mir am meisten wehtut? Dass ich ausgerechnet der Sache beschuldigt werden soll, die ich so verabscheue. Ich bin niemand, der Macht missbraucht, verdammt noch mal. Ich würde nie jemanden kaltblütig ermorden.« Ich rede immer weiter. »Ich hasse Tod. Ich hasse Mord. Ich hasse alles, was ich jeden gottverdammten Tag sehe. Und jetzt glauben alle, dass ich so etwas getan habe? Oder eine Jury, dass ich so etwas getan haben könnte?« Ich lasse die Frage im Raum stehen. Weder Lucy noch McGovern sagen etwas.
    Marino ist laut. Seine Stimme ist so kräftig und voluminös wie er und tendiert dazu, zu poltern, statt zu führen, zu konfrontieren, statt gemessen dahinzuschreiten. »Sind Sie sicher, dass sie seine Freundin ist?«, sagt er. Ich nehme an, dass er mit

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