Das letzte Revier
mein Vater hinter dem Wohnzimmerfenster schallend lachte, gegen die Scheibe klopfte und laut Fats Waller hörte. Mein Vater war ein guter Mann.
Wenn es ihm einigermaßen gut ging, war er großzügig, rücksichtsvoll, voller Humor und Freude. Er sah gut aus, war mittelgroß, blond und hatte breite Schultern, bevor er vom Krebs dahingerafft wurde. Mit vollem Namen hieß er Kay Marcellus Scarpetta III, und er bestand darauf, dass das erste Kind seinen Namen tragen würde, wie es Tradition war, seit die Familie Verona verlassen hatte. Es machte nichts, dass ich ein Mädchen war. Kay ist ein Mädchen- wie ein Jungenname, aber meine Mutter rief mich immer Katie. Sie meinte, es wäre verwirrend, zwei Kays im Haus zu haben. Aber nachdem mein Vater gestorben und ich die einzige Kay war, nannte sie mich immer noch Katie, weigerte sich, den Tod meines Vaters zu akzeptieren und zu überwinden, und das hat sie bis heute nicht getan. Sie will ihn nicht gehen lassen. Mein Vater starb vor über dreißig Jahren, als ich zwölf war, und meine Mutter ist nie mit einem anderen Mann ausgegangen. Sie trägt noch immer ihren Ehering. Sie nennt mich immer noch Katie.
Lucy und McGovern diskutieren ihre Pläne bis nach Mitternacht. Sie versuchen nicht länger, mich in ihre Gespräche mit einzubeziehen, und scheinen auch nicht länger zu bemerken, dass ich ganz woanders bin, ins Feuer starre, gedankenverloren meinen steifen linken Arm massiere und einen Finger unter den Gips zwänge, um mein lufthungriges Fleisch zu kratzen. Schließlich gähnt Marino wie ein Bär und steht auf. Der Bourbon lässt ihn etwas schwanken, er riecht nach Zigarettenrauch und sieht mich mit einer Zärtlichkeit im Blick an, die ich traurige Liebe nennen würde, wenn ich willens wäre, mir seine wahren Gefühle für mich einzugestehen. »Komm«, sagt er zu mir. »Bring mich zu meinem Wagen, Doc.« Das ist seine Art, einen Waffenstillstand zwischen uns auszurufen. Marino ist kein Rohling. Es tut ihm Leid, wie er mich behandelt hat, seitdem ich beinahe ermordet worden wäre, und er hat mich noch nie so geistesabwesend und seltsam still erlebt. Die Nach t ist kalt und ruhig, und die Sterne verstecken sich hinter Wolken. Ich stehe auf der Einfahrt und nehme das Leuchten der vielen Kerzen in den Fenstern wahr und denke daran, dass morgen der 24. ist, zum letzten Mal in diesem Jahrhundert. Das Geräusch der Schlüssel durchbricht die Stille, als Marino seinen Pickup aufsperrt und verlegen zögert, bevor er die Tür öffnet. »Wir haben eine Menge zu tun. Ich sehe dich morgen früh im Leichenschauhaus.« Das ist nicht, was er wirklich sagen will. Er starrt empor in den dunklen Himmel und seufzt. »Scheiße, Doc. Ich weiß es seit einer Weile, okay? Das hast du mittlerweile herausgefunden. Ich wusste, was der Dreckskerl Righter vorhatte, und musste den Dingen ihren Lauf lassen.«
»Wann hättest du's mir erzählt?«, frage ich ihn, nicht vorwurfsvoll sondern neugierig.
Er zuckt die Achseln. »Ich bin froh, dass Anna als Erste darüber geredet hat. Ich weiß, dass du Diane Bray nicht umgebracht hast. Aber, um ehrlich zu sein, ich würde es dir nicht verübeln, hättest du es getan. Sie war das größte verdammte Miststück, das je geboren wurde. Wenn du sie umgelegt hättest, wäre das meiner Meinung nach Notwehr gewesen.«
»Das wäre es nicht gewesen.« Ich denke ernsthaft über diese Möglichkeit nach. »Das wäre es nicht gewesen, Marino. Und ich habe sie nicht umgebracht.« Ich betrachte seine massige Gestalt im matten Schein der Straßenlampen und geschmückten Bäume. »Du hast doch nie wirklich geglaubt...?« Ich beende den Satz nicht. Vielleicht will ich die Antwort nicht hören.
»Himmel, ich weiß nicht, was ich in letzter Zeit geglaubt habe«, sagt er. »Das ist die Wahrheit. Aber was soll ich jetzt tun , Doc?«
»Tun? Was meinst du?« Ich weiß nicht, wovon er spricht. Er zuckt die Achseln und hat einen Kloß im Hals. Ich kann es nicht glauben. Marino wird gleich weinen. »Wenn du aufhörst.« Sein e Stimme zittert, er räuspert sich und kramt nach seinen Lucky Strikes. Er legt die großen Hände um meine Hand und zündet mir eine Zigarette an, seine Haut rau auf meiner, die Haare auf seinen Handgelenken streifen mein Kinn. Er raucht, blickt geknickt in die Ferne. »Was dann? Soll ich etwa in das verdammte Leichenschauhaus gehen, und du bist nicht da? Himmel, ich würde nicht halb so oft in dieses stinkende Loch hinuntersteigen, wenn du nicht mehr da wärst,
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