Das letzte Revier
Motiven handelt«, fährt Jay fort. »Ein Homosexueller. Ein Indianer.« Er zuckt die Achseln. »Folter ist etwas Grauenhaftes. Wiesen die Toten Verletzungen an den Genitalien auf?« Er wendet sich mir zu. »Nein.« Ich halte seinem Blick stand. Der Gedanke, dass wir miteinander geschlafen haben, erscheint mir jetzt befremdlich, ebenso befremdlich ist es, seine vollen Lippen anzusehen, seine eleganten Hände und sich an ihre Berührung zu erinnern. Als wir durch die Straßen von Paris gingen, drehten sich die Leute um und starrten ihn an.
»Hmmmm«, sagt er. »Das finde ich interessant und vielleicht auch wichtig. Ich bin natürlich kein forensischer Psychiater, aber bei Verbrechen aus rassistischen oder sexistischen Gründen fügen die Täter den Opfern nur selten Verletzungen an den Genitalien zu.« Marino schaut ihn ungläubig an, sein Mund steht in offenkundiger Verachtung offen.
»Weil ein erzreaktionärer, homophobischer Kerl die Genitalien des Typen natürlich als Letztes anrühren würde«, fügt Jay hinzu. »Also, wenn wir schon dabei sind«, sagt Marino bissig zu ihm, »dann ziehen wir doch eine Parallele zu Chandonne. Auch er hat die Genitalien seiner Opfer nicht angerührt. Scheiße, er hat ihnen noch nicht mal die verdammten Hosen ausgezogen, sondern nur ihre Gesichter und Brüste zerschlagen und zerbissen. Das Einzige, was er an der unteren Körperhälfte tat, war, ihnen die Schuhe und Socken auszuziehen und sie in die Füße zu beißen. Und warum? Weil er Angst vor weiblichen Genitalien hat, weil sein eigenes Gerät so deformiert ist wie alles an ihm.« Marino blickt in die Gesichter um ihn herum. »Aber da der Mistkerl im Gefängnis sitzt, wissen wir jetzt wenigstens, was für einen Schwanz er hat. Und jetzt ratet mal. Er hat überhaupt keinen Schwanz. Oder sagen wir, das, was er hat, würde ich nicht als Schwanz bezeichnen.« Stanfield sitzt jetzt aufrecht auf der Couch, die Augen erstaunt aufgerissen.
»Ich fahre mit Ihnen zum Motel«, sagt Jay zu Marino. Marin o steht auf und sieht aus dem Fenster. »Ich frage mich, wo Vander bleibt«, sagt er.
Er erreicht Vander auf dessen Handy, und Minuten später brechen wir auf, um ihn vor dem Haus zu treffen. Jay geht neben mir. Ich spüre, dass er unbedingt mit mir sprechen, einen Konsens erreichen will. In dieser Beziehung verhält er sich wie eine Frau. Er will reden, die Sache erledigen, sie entweder zum Abschluss bringen oder neu entfachen, damit er wieder den schwer Erreichbaren spielen kann. Ich dagegen will davon nichts wissen. »Kay kann ich kurz mit dir sprechen?«, sagt er auf der Straße. Ich bleibe stehen und sehe ihn an, während ich meinen Mantel zuknöpfe. Marino blickt in unsere Richtung, als er die Müllsäcke und den Kinderwagen aus seinem Pickup holt und sie in Vanders Wagen verstaut.
»Gibt es keine Möglichkeit, es für uns beide leichter zu machen. Wir müssen schließlich zusammenarbeiten«, sagt Jay. »Vielleicht hättest du daran denken sollen, bevor du Jaime Berger detailliert von uns erzählt hast, Jay«, erwidere ich.
»Das ging nicht gegen dich.« Seine Augen lassen mich nicht los. »Richtig.«
»Sie hat mir Fragen gestellt, verständlicherweise. Sie tut nur ihre Arbeit.«
Ich glaube ihm nicht. Das ist mein grundsätzliches Problem mit Jay Talley. Ich traue ihm nicht und wünschte, ich hätte es auch nie getan. »Es ist komisch«, sage ich. »Denn anscheinend haben die Leute schon angefangen, Fragen über mich zu stellen, bevor Diane Bray ermordet wurde. Nämlich bereits zu der Zeit, als ich mit dir in Frankreich war.«
Seine Miene verdunkelt sich. Zorn blitzt auf, bevor er ihn verbergen kann. »Du bist paranoid, Kay«, sagt er. »Du hast Recht«, entge gne ich. »Du hast vollkommen Recht, Jay.«
25
Ich habe noch nie am Steuer von Marinos Dodge Ram Quad Cab Pickup gesessen, und unter weniger widrigen Umständen hätte ich das Szenario wahrscheinlich komisch gefunden. Ich bin nicht groß, knapp einen Meter dreiundsechzig, schlank und habe nichts Auffälliges oder Extravagantes an mir. Ich trage hin und wieder Jeans, aber nicht heute. Ich würde sagen, dass ich mich wie eine Rechtsanwältin oder Chefin anziehe, für gewöhnlich trage ich einen maßgeschneiderten Hosenanzug oder eine Wollhose und einen Blazer, außer ich muss an einen Tatort. Mein blondes Haar ist kurz geschnitten, ich verwende nur wenig Makeup, und Schmuck ist abgesehen von meinem Siegelring und meiner Armbanduhr Nebensache. Ich habe keine einzige
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