Das letzte Revier
belegten. Plötzlich wird mir klar, dass man Menschen über Wut, Tränen, Widerstand, sogar über Schmerz hinaustreiben kann. Irgendwann versinkt man in einem dunklen Sumpf der Resignation. Was ist, ist. Was war, gehört der Vergangenheit an. »Ich kann hier nicht mehr leben«, sage ich zu Berger und Marino.
»Da hast du Recht«, sagt er in dem aggressiven, zornigen Tonfall, der dieser Tage zu ihm gehört wie eine zweite Haut. »Hör mal«, sage ich zu ihm, »bell mich nicht so an. Wir sin d alle wütend, frustriert und erschöpft. Ich begreife nicht, was hier vor sich geht, aber eins ist klar: Jemand, der irgendwie mit uns in Verbindung steht, hat auch etwas mit den jüngsten Opfern zu tun, mit diesen Männern, die gefoltert wurden. Und wer immer meinen Schlüssel in Barbosas Tasche gesteckt hat, will entweder implizieren, dass ich etwas mit diesen Verbrechen zu tun habe, oder, was wahrscheinlicher ist, er will mich warnen.«
»Ich glaube, es ist eine Warnung«, sagt Marino. Und wo treibt sich Rocky zurzeit herum?, würde ich ihn am liebsten fragen.
»Ihr lieber Sohn Rocky«, sagt Berger für mich. Marino trinkt einen Schluck Bier und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. Er antwortet nicht darauf. Berger blickt auf ihre Uhr und sieht dann uns an. »Tja«, sagt sie. »Fröhliche Weihnachten.«
30
Annas Haus ist dunkel und still, als ich um Punkt drei Uhr morgens eintrete. Sie hat rücksichtsvollerweise ein Licht im Flur und eins in der Küche brennen lassen neben einem kristallenen Whiskeyglas und der Flasche Glenmorangie, für den Fall, dass ich ein Beruhigungsmittel brauche. Um diese Uhrzeit lehne ich ab. Ich wünsche mir halb, dass Anna wach wäre. Fast bin ich versucht, Krach zu machen, in der Hoffnung, dass sie hereinkommen und sich zu mir setzen würde. Auf seltsame Weise bin ich süchtig nach unseren Sitzungen, obwohl ich eigentlich wünschen sollte, sie hätten nie stattgefunden. Ich gehe in den Gästeflügel, denke über Übertragung nach und frage mich, ob Übertragung bei mir und Anna eine Rolle spielt. Oder vielleicht fühle ich mich auch nur einsam und fix und fertig, weil Weihnachten ist und ich hellwach in einem fremden Haus bin, nachdem ich den ganzen Tag über mit gewaltsamen Toden zu tun hatte, darunter einem, der mir zur Last gelegt wird.
Anna hat einen Brief auf mein Bett gelegt. Ich nehme das cremefarbene Kuvert in die Hand und merke an Gewicht und Dicke, dass sie mir ausführlich geschrieben hat. Ich lasse meine Kleider in einem Haufen auf dem Badezimmerboden liegen und stelle mir die Hässlichkeiten vor, die noch in ihrem Gewebe hängen müssen, allein auf Grund dessen, wo ich war und was ich die letzten zwanzig Stunden gemacht habe. Erst nach der Dusche merke ich, dass meinen Kleidern der schmutzige Brandgeruch des Motelzimmers anhaftet. Ich wickle sie in ein Handtuch, damit ich sie vergessen kann, bis ich sie zur Reinigung bringe. Ich ziehe einen von Annas dicken Bademänteln an und lege mich ins Bett. Als ich erneut Annas Brief in die Hand nehme, bin ich nervös. Ich öffne das Kuvert und falte sechs steife, mit einem Wasserzeichen versehen e Briefpapierbögen auseinander. Ich beginne zu lesen, zwinge mich dazu, mich zu konzentrieren. Anna wählt ihre Worte mit Bedacht, und sie will, dass ich nichts überlese, denn sie ist nicht verschwenderisch mit Worten.
Liebste Kay, als Kriegskind habe ich gelernt, dass die Wahrheit nicht immer richtig oder gut oder das Beste ist. Wenn die SS vor der Tür stand und fragte, ob Juden im Haus seien, sagte man nicht die Wahrheit, wenn man Juden versteckte. Als Mitglieder der Totenkopfdivision das Haus meiner Familie in Österreich besetzten, konnte ich niemandem erzählen, wie sehr ich sie hasste. Wenn der SS-Kommandant von Mauthausen in vielen Nächten in mein Bett kam und mich fragte, ob mir gefiel, was er mit mir tat, sagte ich nicht die Wahrheit. Er erzählte schmutzige Witze und zischte mir ins Ohr, ahmte das Geräusch von einströmendem Gas nach, wenn Juden vergast wurden, und ich lachte, weil ich Angst hatte. Manchmal betrank er sich, wenn er aus dem Lager kam, und einmal gab er damit an, bei einer SS-Razzia im nahen Langenstein einen zwölfjährigen Jungen umgebracht zu haben. Später erfuhr ich, dass das nicht stimmte, dass der Chef der Staatspolizei von Linz den Jungen erschossen hatte, aber als er es mir erzählte, glaubte ich ihm, und meine Angst war unbeschreiblich. Auch ich war Kind eines Zivilisten. Niemand war sicher.
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