Das letzte Revier
Benton ebenso zu durchschauen wie er sie. »Wenn es Carrie war«, sagt MacGovern düster, »dann müssen wir uns fragen, o b sie irgendwie von Chandonne und seinen Morden wusste.«
»Das hätte sie angemacht«, erwidere ich wütend und schiebe meinen Stuhl vom Tisch zurück. »Und sie wusste verdammt gut, dass Benton senkrecht in die Luft gehen würde, wenn sie ihm am selben Tag, an dem Susan Pless ermordet wurde, einen Brief schreiben würde. Er würde den Zusammenhang erkennen.«
»Und von einem Postamt in Susans Nachbarschaft«, fügt Lucy hinzu.
Wir spekulieren, postulieren und diskutieren bis zum späten Nachmittag, und dann beschließen wir, dass es Zeit ist fürs Abendessen. Wir wecken Marino, bringen ihn auf den neusten Stand und reden weiter, während wir Salat, süße Zwiebeln und in Rotweinessig und kaltgepresstem Olivenöl eingelegte Tomaten essen. Marino schaufelt Essen in sich hinein, als hätte er seit Tagen nichts mehr zu sich genommen, stopft sich Lasagne in den Mund, während wir debattieren und uns die große Frage stellen: Wenn es Carrie Grethen war, die Benton verfolgte, und sie irgendeine Verbindung zur Familie Chandonne hatte, war Bentons Ermordung dann mehr als ein psychopathischer Akt? Geht sein Tod auf das Konto des organisierten Verbrechens und wurde bloß als persönliche, sinnlose, wahnsinnige Tat maskiert, die Carrie nur allzu gern ausführte?
»Mit anderen Worten«, sagt Marino mit vollem Mund, »war sein Tod so etwas, was dir zurzeit vorgeworfen wird?« Am Tisch ist es still. Niemand von uns versteht, was er meint, aber dann dämmert es mir. »Du meinst, ob es ein handfestes Motiv für seine Ermordung gab, aber es sollte aussehen, als wäre ein Serienmörder am Werk?«
Er zuckt die Achseln. »So wie dir vorgeworfen wird, Bray ermordet zu haben, und dann lässt du es so aussehen, als wäre es der Wolfsmann gewesen.«
»Deswegen wurde Interpol so heiß und interessiert«, sag t Lucy. Marino schenkt sich erstklassigen französischen Wein nach, den er hinunterschüttet wie Wasser. »Ja, Interpol. Vielleicht war Benton irgendwie mit dem Kartell verstrickt un d -«
»Wegen Chandonne«, unterbreche ich ihn, als ich plötzlich klarer sehe und glaube, auf eine Spur gestoßen zu sein, die uns vielleicht zur Wahrheit führen wird.
Jaime Berger ist unser nicht geladener Weihnachtsgast. Den ganzen Nachmittag über geht sie mir nicht aus dem Kopf. Ich denke ständig an eine der ersten Fragen, die sie mir in meinem Besprechungszimmer stellte. Sie wollte wissen, ob jemand ein Profil von Chandonnes Morden in Richmond erstellt hatte. Sie ist überzeugt, dass psychologische Profile unerlässlich sind. Gewiss hat sie einen Profiler auf Susan Pless' Mörder angesetzt, und ich vermute mehr und mehr, dass Benton von dem Fall wusste. Ich stehe vom Tisch auf. »Bitte sei zu Hause«, sage ich laut und fühle mich zunehmend verzweifelt, als ich in meiner Tasche nach ihrer Karte krame. Darauf steht auch ihre Privatnummer, und ich gehe in Annas Küche, wo ich ungestört bin. Einerseits ist es mir peinlich. Andererseits habe ich Angst. Wenn ich mich irre, blamiere ich mich. Wenn ich Recht habe, dann hätte sie offener zu mir sein sollen, verdammt noch mal. »Hallo?«, meldet sich eine Frauenstimme. »Ms. Berger?«, sage ich.
»Einen Moment bitte.« Die Person ruft: »Mom! Für dich!« Kaum hat Berger den Hörer in der Hand, sage ich: »Was gibt es denn sonst noch, was ich nicht über Sie weiß? Denn mir wird immer klarer, dass ich nicht viel weiß.«
»Oh, Jill.« Sie muss die Person meinen, die abgenommen hat. »Sie stammen aus Gregs erster Ehe. Zwei Teenager. Und heute würde ich sie jedem verkaufen, der als Erster bietet. Nein, ich würde sogar noch draufzahlen, damit man sie mir abnimmt.«
»Nein, würdest du nicht«, sagt Jill im Hintergrund und lacht.
»Lassen Sie mich irgendwohin gehen, wo's ruhiger ist«, sagt Berger, während sie sich in einen anderen Bereich der Wohnung zurückzieht, wo sie mit einem Mann und zwei Kindern lebt, die sie mir gegenüber nie erwähnt hat, obwohl wir Stunden miteinander verbracht haben. Mein Unmut wächst. »Was ist los , Kay?«
»Kannten Sie Benton?«, frage ich sie ohne Umschweife. Schweigen.
»Sind Sie noch da?«, sage ich.
»Ich bin da«, sagt sie, und ihr Tonfall ist jetzt ruhig und ernst. »Ich denke darüber nach, wie ich Ihre Frage am besten beantworten -«
»Warum nicht ausnahmsweise mit der Wahrheit?«
»Ich war Ihnen gegenüber immer ehrlich«,
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