Das letzte Revier
Schuhe. Niemand hat das Recht, mir die Schuld für das zu geben, was er getan hat. Warum tust du das?«
»Wir schaffen uns unsere eigenen Welten. Wir zerstören unsere eigenen Welten. So einfach ist das, Kay«, antwortet sie. »Ich kann nicht glauben, dass du für möglich hältst, ich hätte es gewollt. Ausgerechnet ich.« Ich sehe kurz ein Bild von Kim Luong vor mir. Ich erinnere mich an die zerschmetterten Gesichtsknochen, die unter meinen Fingern knirschend nachgaben. Ich erinnere mich an den beißenden, süßen Geruch gerinnenden Bluts in dem stickigen, heißen Lagerraum, in den Chandonne die sterbende Frau zerrte, damit er seine wahnsinnige Lust an ihr auslassen, sie schlagen und beißen und ihr Blut verschmieren konnte. »Auch die anderen Frauen haben es nicht gewollt«, sage ich. »Ich kenne diese Frauen nicht«, sagt Anna. »Ich kann nicht sagen, was sie gewollt oder nicht gewollt haben.«
Ich sehe Diane Bray vor mir, ihre arrogante Schönheit geschändet, zerstört und brutal zur Schau gestellt auf der nackten Matratze in ihrem Schlafzimmer. Sie war vollkommen unkenntlich, als er mit ihr fertig war. Er schien sie mehr z u hassen als Kim Luong - mehr als die Frauen, die er vermutlich in Paris ermordete, bevor er nach Richmond kam. Ich frage mich laut, ob Chandonne sich in Bray wieder erkannte und sich sein Selbsthass deswegen ins Unermessliche steigerte. Diane Bray war gerissen und eiskalt. Sie war grausam und missbrauchte ihre Macht so selbstverständlich, wie sie atmete. »Du hattest guten Grund, sie zu hassen«, erwidert Anna. Das lässt mich in meinem Gedankengang innehalten. Ich reagiere nicht sofort. Ich versuche, mich daran zu erinnern, ob ich jemals gesagt habe, dass ich jemanden hasse, oder schlimmer noch, ob ich mich dessen je schuldig gemacht habe. Eine andere Person zu hassen ist falsch. Es ist nie richtig. Hass ist ein mentales Verbrechen, das zu realen Verbrechen führt. Hass ist es, der so viele Leichen vor meiner Tür abliefert. Ich erkläre Anna, dass ich Diane Bray nicht hasste, obwohl es ihr Ziel war, mich auszuschalten, und es ihr fast gelungen wäre, mich aus dem Weg zu räumen. Bray war krankhaft eifersüchtig und ehrgeizig. Aber nein, sage ich zu Anna, ich habe Diane Bray nicht gehasst. Sie war bösartig, aber sie verdiente nicht, was er ihr angetan hat. Und sie hat es gewiss nicht provoziert. »Meinst du?« Anna stellt alles in Frage. »Meinst du nicht, dass er ihr auf symbolische Weise antat, was sie mit dir tat? - Besessenheit. Sie erzwang sich einen Weg in dein Leben, als du verwundbar warst. Sie griff an, demütigte, zerstörte - ihre Machtfülle erregte sie, vielleicht sogar sexuell. Was hast du so oft zu mir gesagt? Die Leute sterben, wie sie gelebt haben.«
»Ja, viele Menschen sterben so.«
»Und sie?«
»Auf symbolischer Ebene, wie du es ausdrückst?«, sage ich. »Vielleicht.«
»Und du, Kay? Wärst du beinahe gestorben, wie du gelebt hast?«
»Ich bin nicht gestorben, Anna.«
»Aber fast«, sagt sie noch einmal. »Und bevor er bei dir auftauchte, hattest du fast schon aufgegeben. Du hast so gut wie aufgehört zu leben, als Benton starb.« Tränen schießen mir in die Augen.
»Was meinst du? Was wäre aus dir geworden, wäre Diane Bray nicht gestorben?«, fragt Anna als Nächstes.
Bray war der Boss der Polizei von Richmond und hat einflussreiche Leute hinters Licht geführt. In sehr kurzer Zeit machte sie sich einen Namen in Virginia, und wie es scheint, war es ausgerechnet ihr Narzissmus, ihr Hunger nach Macht und Anerkennung, die Chandonne zu ihr lockten. Ich frage mich, ob er sie beobachtet hat. Ich frage mich, ob er mich beobachtet hat, und vermute, dass die Antwort auf beide Fragen ja lautet.
»Meinst du, dass du noch immer die Gerichtsmedizin leiten würdest, wenn Diane Bray noch am Leben wäre?« Anna lässt mich nicht aus den Augen.
»Ich hätte sie nicht gewinnen lassen.« Ich probiere die Suppe, und mir dreht sich fast der Magen um. »Mir egal, was für diabolische Pläne sie hatte, ich hätte es nicht zugelassen. Über mein Leben entscheide ich. Sie hatte mich nie in der Hand. Mein Leben gehört mir, ich kann es zu einem Erfolg machen oder ruinieren.«
»Vielleicht freust du dich, dass sie tot ist«, sagt Anna. »Die Welt ist ohne sie besser dran.« Ich schiebe das Set und alles, was darauf ist, ein gutes Stück weg von mir. »Das ist die Wahrheit. Die Welt ist ohne Menschen wie sie besser dran. Die Welt wäre besser dran ohne ihn.«
»Ohne
Weitere Kostenlose Bücher