Das letzte Revier
Chandonne?« Ich nicke.
»Dann wäre es dir vielleicht doch lieber, wenn Lucy ihn umgebracht hätte?«, sagt sie ruhig. Anna sucht nach der Wahrheit, ohne aggressiv zu werden oder zu werten. »Vielleicht würdest du - wie sagt man? - gerne auf den Knopf drücken?«
»Nein.« Ich schüttle den Kopf. »Nein, ich würde be i niemandem den Knopf drücken. Ich kann nichts essen. Tut mir Leid, du hast dir so viel Mühe gemacht. Hoffentlich werde ich nicht krank.«
»Wir haben für heute genug geredet.« Anna ist plötzlich die Mutter, die beschlossen hat, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen. »Morgen ist Sonntag, ein guter Tag, um zu Hause zu bleiben und auszuruhen. Ich werde alle Termine, die ich am Montag habe, absagen. Und wenn nötig, auch die Termine am Dienstag und Mittwoch und für den Rest der Woche.«
Ich versuche zu widersprechen, aber sie will nichts davon hören. »Wenn man so alt ist wie ich, kann man tun und lassen, was man will, das ist das Gute am Alter«, fügt sie hinzu. »Ich habe Notdienst. Aber das ist alles. Und im Augenblick bist du mein größter Notfall, Kay.«
»Ich bin kein Notfall.« Ich stehe vom Tisch auf. Anna hilft mir mit meinem Gepäck und führt mich einen langen Flur entlang in den westlichen Flügel ihres herrschaftlichen Hauses. Das Gästezimmer, das ich für unbestimmte Zeit bewohnen werde, wird von einem großen Bett aus Eibenholz dominiert, das wie viele Möbel in ihrem Haus blassgoldenes Biedermeier ist. Der Rest der Einrichtung ist zurückhaltend, mit geraden, schlichten Linien, aber dicke Daunenbetten und Kissen und schwere Vorhänge, die wie champagnerfarbene seidene Wasserfälle auf den Hartholzboden fließen, deuten ihre wahre Natur an. Annas Lebenselixier besteht darin, anderen die Last von der Seele zu nehmen, zu heilen, Schmerz zu lindern und Schönheit zu feiern. »Brauchst du noch etwas?« Sie hängt meine Kleider auf.
Ich verstaue ein paar Sachen in Kommodenschubladen und merke, dass ich wieder zittere.
»Brauchst du etwas, um schlafen zu können?« Sie stellt meine Schuhe auf den Schrankboden.
Ein Schlafmittel zu nehmen ist ein verführerischer Vorschlag , den ich jedoch ablehne. »Ich hatte immer Angst, dass es zur Gewohnheit wird«, antworte ich vage. »Du siehst ja, wie es mir mit den Zigaretten geht. Man kann mir nicht trauen.«
Anna sieht mich an. »Es ist sehr wichtig, dass du schläfst, Kay. Die Depression kennt keinen besseren Freund.«
Ich bin mir nicht sicher, was genau sie sagen will, aber ich verstehe, was sie meint. Ich habe tatsächlich eine Depression, und Schlafentzug macht alles noch viel schlimmer. Während meines ganzen Lebens ist Schlaflosigkeit aufgeflackert wie Arthritis, und als Ärztin muss ich seit jeher der Versuchung widerstehen, mich in meinem eigenen Süßigkeitenladen zu bedienen. Verschreibungspflichtige Medikamente sind mir zugänglich. Ich habe mich immer davon fern gehalten.
Anna lässt mich allein, und ich sitze im Bett, das Licht ausgeschaltet, starre in die Dunkelheit und möchte glauben, dass sich am nächsten Morgen alles, was passiert ist, als einer von vielen Alpträumen herausstellt, ein weiterer Horror, der aus einer tiefen Schicht in mir heraufgekrochen ist, während ich ohne Bewusstsein war. Ich suche mein Inneres ab wie mit einer Taschenlampe, finde jedoch nichts. Ich kann der Tatsache, dass ich fast verstümmelt und umgebracht worden wäre, keine Bedeutung zuschreiben und weiß nicht, wie dieser Umstand mein weiteres Leben beeinflussen wird. Ich fühle es nicht. Ich verstehe es nicht. Gott steh mir bei. Ich drehe mich auf die Seite und schließe die Augen. Ich schließe meine Augen zu, betete meine Mutter immer mit mir, aber ich dachte, dass diese Worte viel besser auf meinen Vater zutrafen, der in seinem Krankenbett am Ende des Flurs lag. Nachdem meine Mutter mein Zimmer verlassen hatte, tauschte ich das »ich« durch »er« aus. Wenn er stirbt, bevor er erwacht, dann hab der Herr auf seine Seele acht. Und dann weinte ich mich in den Schlaf.
3
Als ich am nächsten Morgen erwache, höre ich Stimmen im Haus und habe das ungute Gefühl, dass die ganze Nacht das Telefon geklingelt hat. Ich weiß nicht, ob ich es geträumt habe. Einen schrecklichen Augenblick lang habe ich keine Ahnung, wo ich bin, doch dann bricht es in einer grausigen, Furcht erregenden Welle über mich herein. Ich arbeite mich aus den Kissen und bleibe einen Moment still sitzen. Trotz der zugezogenen Vorhänge ist mir klar, dass die Sonne
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