Das letzte Revier
Serienmörder ist, der in mein Haus eingebrochen ist. Lucy neigt seit langem dazu, zur Konfliktlösung auf gewaltsame Mittel zurückzugreifen, auch schon vor dem Vorfall in Miami. Ihre schwierige Vergangenheit hängt bedrohlich über uns wie ein Tiefdruckgebiet.
»Ich bin die Letzte, das nicht zuzugeben«, erwidert Lucy. »Alle wollten ihn am liebsten erschießen. Meinst du, Marino nicht auch?« Sie sieht mir in die Augen. »Meinst du nicht, dass jeder Polizist, jeder Agent, der da war, abdrücken wollte? Sie halten mich für eine blindwütige Söldnerin, eine Psychopathin , die es anmacht, Leute abzuknallen. Zumindest haben sie das angedeutet.«
»Du brauchst Zeit für dich«, sagt Anna unumwunden. »Vielleicht geht es ihnen nur darum und um nichts anderes.«
»Darum geht es nicht. Komm schon, wenn ein Mann das in Miami getan hätte, dann wäre er ein Held. Wenn ein Mann Chandonne beinahe erschossen hätte, dann würden die Schreibtischhengste in D.C. ihm zu seiner Zurückhaltung gratulieren und ihn nicht in die Mangel nehmen, weil er beinahe etwas getan hätte. Wie kann man jemanden dafür bestrafen, weil er beinahe etwas getan hätte? Ja, wie kann man überhaupt beweisen, dass jemand beinahe etwas getan hätte?«
»Nun, sie werden es beweisen müssen«, sagt die Rechtsanwältin, die Polizistin in mir. Gleichzeitig muss ich daran denken, dass Chandonne mir auch beinahe etwas angetan hätte. Er hat es nicht, gleichgültig, ob er es vorhatte oder nicht, und seine Verteidigung wird versuchen, aus dieser Tatsache Profit zu schlagen. »Sie können tun, was immer sie wollen«, sagt Lucy, während Kränkung und Wut in ihr gären. »Sie können mich feuern. Oder mich an irgendeinen Schreibtisch in einem kleinen, fensterlosen Büro in South Dakota oder Alaska setzen. Oder mich in der beschissenen audiovisuellen Abteilung begraben.«
»Kay, du hast noch nicht einmal Kaffee getrunken.« Anna versucht, die wachsende Spannung aufzulösen.
»Ah, vielleicht ist das mein Problem. Vielleicht verstehe ich deswegen heute Morgen nur noch Bahnhof.« Ich gehe zur Kaffeemaschine neben der Spüle. »Noch jemand?«
Niemand. Ich gieße mir eine Tasse ein, während Lucy Dehn-und Streckübungen macht. Es ist immer erstaunlich, ihr bei diesen Bewegungen zuzusehen, die fließend und geschmeidig sind, ihre Muskeln ziehen die Aufmerksamkeit unwillkürlich auf sich. Sie begann das Leben pummelig und unbeholfen und ha t Jahre damit zugebracht, ihren Körper in eine Maschine umzuwandeln, die reagiert, wie sie es will, ähnlich wie die Helikopter, die sie fliegt. Vielleicht verleiht ihr brasilianisches Blut ihrer Schönheit dieses dunkle Feuer, jedenfalls ist Lucy elektrifizierend. Die Leute sehen sie unwillkürlich an, wo immer sie auftaucht, und sie reagiert mit einem Achselzucken, höchstens.
»Ich verstehe nicht, wie du bei so einem Wetter rausgehen und laufen kannst«, sagt Anna zu ihr.
»Ich mag Schmerzen.« Lucy schnallt sich ihre Buttpack um, in dem sich eine Pistole befindet.
»Wir müssen noch weiter darüber reden, überlegen, was du am besten tust.« Koffein defibrilliert mein langsames Herz und klärt meinen Kopf.
»Nach dem Laufen gehe ich ins Fitnesstudio«, erklärt Lucy. »Ich bin eine Weile weg.«
»Schmerzen und noch mehr Schmerzen«, sagt Anna. Wenn ich meine Nichte ansehe, muss ich immer daran denken, wie außergewöhnlich sie ist und wie ungerecht das Leben sie behandelt hat. Ihren biologischen Vater hat sie nie kennen gelernt, und dann kam Benton und wurde der Vater, den sie nie hatte, und schließlich hat sie auch ihn verloren. Ihre Mutter ist eine egozentrische Frau, die viel zu kompetitiv ist, um Lucy zu lieben, falls meine Schwester Dorothy überhaupt in der Lage ist, jemanden zu lieben, was ich nicht glaube. Lucy ist möglicherweise die intelligenteste, komplizierteste Person, die ich kenne. Das hat ihr nicht viele Fans eingebracht. Sie war immer unbezähmbar, und als ich ihr zusehe, wie sie wie eine Olympionikin, bewaffnet und gefährlich, aus der Küche stürmt, fällt mir ein, wie sie mit viereinhalb Jahren in die Schule kam und in der ersten Klasse wegen ihres Betragens sitzen blieb.
»Wie kann man wegen eines Betragens sitzen bleiben?«, fragte ich Dorothy, die mich wütend anrief, um sich über di e schreckliche Bürde als Lucys Mutter zu beschweren.
»Sie redet die ganze Zeit, unterbricht die anderen Schüler und hebt ständig die Hand, um Fragen zu beantworten!«, ereiferte sich Dorothy am Telefon.
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