Das letzte Revier
nicht scheint, dass ein grauer Tag wartet. Ich ziehe den dicken Frotteebademantel an, der an der Badezimmertür hängt, und Socken, bevor ich losgehe, um nachzusehen, wer noch im Haus ist. Ich hoffe, es ist Lucy, und so ist es auch. Sie und Anna sind in der Küche. Kleine Schneeflocken treiben an den großen Fenstern vorbei, die auf den Garten hinter dem Haus und den zinnfarbenen Fluss hinausgehen. Kahle Bäume, deren Umrisse sich dunkel vor dem grauen Tageslicht abheben, schwanken leicht im Wind, und aus dem Haus nebenan steigt Rauch. Lucy trägt einen verwaschenen Trainingsanzug aus den Tagen, als sie am MIT Computer- und Robotertechnologiekurse belegte. Sie scheint ihr kurzes kastanienbraunes Haar mit den Fingern frisiert zu haben und wirkt ungewö hnlich verbissen. Ihre Augen sind glasig und gerötet, wahrscheinlich hat sie gestern Abend zu viel getrunken.
»Bist du gerade erst gekommen?« Ich umarme sie. »Eigentlich schon gestern Abend«, sagt sie und drückt mich an sich. »Ich konnte nicht widerstehen. Ich dachte, ich schau vorbei und wir veranstalten eine Schlafanzugparty. Aber du warst schon angezählt. Meine Schuld, weil ich so spät gekommen bin.«
»O nein.« In mir tut sich eine Leere auf. »Du hättest mic h wecken sollen. Warum hast du das nicht?«
»Kommt gar nicht in Frage. Was macht der Arm?«
»Tut nicht mehr ganz so weh.« Es ist eine Lüge. »Wohnst du nicht mehr im Jefferson?«
»Doch.« Lucys Miene ist undurchdringlich. Sie setzt sich auf den Boden und zieht die baumwollene Trainingshose aus. Darunter kommt eine leuchtende, enge Jogginghose zum Vorschein. »Ich fürchte, deine Nichte hatte einen schlechten Einfluss auf mich«, sagt Anna. »Sie hat eine Flasche Veuve Cliquot mitgebracht, und wir sind viel zu lange aufgeblieben. Und dann habe ich sie nicht mehr mit dem Auto fahren lassen.« Ich fühle mich kurz gekränkt, oder vielleicht bin ich auch eifersüchtig. »Champagner? Gibt es was zu feiern?«, frage ich. Anna reagiert mit einem kurzen Schulterzucken. Sie macht sich Sorgen. Ich spüre, dass drückende Gedanken auf ihr lasten, die sie mir nicht mitteilen will, und ich frage mich, ob das Telefon in der Nacht tatsächlich geklingelt hat. Lucy zieht den Reißverschluss ihrer Jacke auf, und mehr blaues und schwarzes Nylon wird sichtbar, das auf ihrem starken athletische n Körper anliegt wie Farbe. »Ja. Feiern«, sagt Lucy, Bitterkeit in der Stimme. »Das ATF hat mich beurlaubt.«
Ich traue meinen Ohren nicht. Beurlaubt heißt so viel wie suspendiert. Es ist der erste Schritt zur Kündigung. Ich blicke zu Anna, um zu sehen, ob sie es schon wusste, aber sie scheint ebenso überrascht wie ich.
»Sie schicken mich in die Sonne.« ATF-Slang für Suspendierung. »Nächste Woche werde ich einen Brief bekommen, in dem alle meine Vergehen aufgelistet sind.« Lucy tut ungerührt, aber ich kenne sie zu gut, um mich zum Narren halten zu lassen. Während der letzten Jahre und Monate hat ein Gefühl sie beherrscht, Wut, und ich spüre sie auch jetzt, verborgen unter den vielen komplexen Schichten ihrer Persönlichkeit. »Sie werden mir alle Gründe für eine Kündigun g nennen, und dann kann ich Einspruch einlegen. Außer, ich entscheide mich, die Scheiße hinzuschmeißen. Was durchaus möglich ist. Ich brauche sie nicht.«
»Warum? Was um Himmels willen ist passiert? Doch nicht wegen ihm?« Ich meine Chandonne.
Von seltenen Ausnahmen abgesehen wird ein Agent, der an einer Schießerei oder einem anderen kritischen Vorfall beteiligt war, sofort von Kollegen unterstützt und mit weniger anstrengenden Aufgaben betraut, zum Beispiel mit Ermittlungen in Fällen von Brandstiftung statt mit gefährlicher Undercover-Arbeit, wie Lucy sie in Miami getan hat. Wenn die Person emotional nicht mit der Sache fertig wird, dann kann sie freigestellt werden, um das Trauma zu verarbeiten. Aber Suspendierung ist eine andere Sache. Sie ist schlicht und einfach eine Bestrafung.
Lucy blickt vom Boden zu mir auf, die Beine ausgestreckt, die Hände hinter dem Rücken aufgestützt. »Es ist die alte Geschichte. Egal, was man tut, es ist das Falsche«, sagt sie. »Wenn ich ihn erschossen hätte, würde ich dafür zahlen müssen. Ich habe ihn nicht erschossen und muss trotzdem zahlen.«
»Du warst in Miami an einer Schießerei beteiligt, und kurz darauf kommst du nach Richmond und hättest beinahe wieder jemanden erschossen.« Was Anna sagt, entspricht der Wahrheit. Es spielt keine Rolle, dass der Jemand ein
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