Das letzte Revier
nicht etwa weil ich auch nur ein Wort von dem glaube, was geschrieben wurde.« Das bedeutet nicht, dass er mich für unschuldig hält. »Aber bis sich die Lage beruhigt hat, halte ich es für unklug, dass Sie weiterhin die Gerichtsmedizin leiten.«
»Heißt das, ich bin gefeuert, Mike?«, frage ich ihn rundheraus. »Nein, nein«, sagt er rasch und in milderem Tonfall. »Wir sollten einfach die Anhörung abwarten und dann weitersehen. Ich habe Sie oder Ihre Idee, auf freier Basis für uns zu arbeiten, nicht aus dem Blick verloren. Lassen Sie uns die Sache hinter uns bringen.«
»Selbstverständlich werde ich tun, was Sie von mir verlangen«, erkläre ich mit dem nötigen Respekt. »Aber ich muss darauf hinweisen, dass es meiner Ansicht nach nicht im Interesse von Virginia ist, wenn ich mich aus nicht abgeschlossenen Fällen zurückziehe, die nach wie vor meine Mitarbeit erfordern.«
»Kay, das ist unmöglich.« Er ist Politiker. »Wir sprechen von zwei Wochen, vorausgesetzt die Anhörung verläuft, wie sie soll.«
»Das muss sie«, erwidere ich. »Ich bin sicher, dass es so sein wird.«
Ich lege auf und sehe Marino an. »Das war das.« Ich beginne , Akten in meine Tasche zu werfen. »Hoffentlich tauschen sie die Schlösser nicht aus, sobald ich draußen bin.«
»Was sollte er denn tun? Denk doch mal drüber nach, Doc.« Marino hat sich ins Unvermeidliche gefügt.
»Ich möchte nur wissen, wer verdammt noch mal geplaudert hat.« Ich schließe meinen Aktenkoffer und lasse die Schlösser zuschnappen. »Bist du vorgeladen worden, Marino?«, frage ich ihn. »Nichts ist mehr vertraulich. Du kannst es mir ruhig sagen.«
»Du wusstest, dass sie mich vorladen würden.« Er blickt gequält drein. »Lass dich nicht kleinkriegen, Doc. Gib nicht auf.« Ich nehme meine Aktentasche und öffne die Tür. »Ich werde alles andere tun, als aufzugeben. Im Gegenteil, ich habe eine Menge vor.« In seinem Gesicht steht die Frage, was? Gerade hat der Gouverneur mich angewiesen, nichts zu tun. »Mike ist in Ordnung«, sagt Marino. »Bring ihn nicht in Bedrängnis. Liefere ihm keinen Grund, dich zu feuern. Warum verreist du nicht für ein paar Tage? Fährst zu Lucy nach New York? Ist sie nicht in New York? Sie und Teun? Verschwinde bis zur Anhörung aus der Stadt. Dann müsste ich mir auch nicht ständig Sorgen um dich machen. Ich mag nicht, dass du ganz allein in Annas Haus bist.«
Ich hole tief Luft und versuche, Wut und Enttäuschung hinunterzuschlucken. Marino hat Recht. Es hat keinen Sinn, den Gouverneur zu vergraulen und meine Lage weiter zu verschlimmern. Aber jetzt fühle ich mich auch noch aus der Stadt vertrieben, und ich habe nichts von Anna gehört, was mich auch kränkt. Ich bin den Tränen nahe, aber ich weigere mich, in meinem Büro zu weinen. Ich wende mich von Marino ab, aber ich kann ihm nichts vormachen. »He«, sagt er, »du hast jedes Recht, dich mies zu fühlen. Die Sache stinkt zum Himmel.«
Ich gehe durch den Flur und die Damentoilette in die Leichenhalle. Turk näht Benny White zusammen, und Jack erledigt den Papierkram. Ich setze mich auf einen Stuhl nebe n meinen Stellvertreter und zupfe mehrere Haare von seinem Kittel. »Sie sollten nicht so viele Haare verlieren«, sage ich und versuche, meine Empörung zu verbergen. »Wollen Sie mir nicht erzählen, warum sie Ihnen so ausfallen?« Das will ich ihn schon seit Wochen fragen. Wie immer ist viel passiert, und Jack und ich haben nicht darüber geredet. »Sie müssen nur die Zeitung lesen«, sagt er und legt den Stift aus der Hand. »Dann wüssten Sie, warum mir die Haare ausfallen.« Sein Blick lastet schwer auf mir.
Ich nicke, weil ich verstanden habe. Damit habe ich gerechnet. Jack weiß seit einer ganzen Weile, dass ich in Schwierigkeiten stecke. Vielleicht hat sich Righter schon vor Wochen mit ihm in Verbindung gesetzt und ihn ausgehorcht, genau wie Anna. Ich frage Jack, ob dem so ist, und er gibt es zu. Er sagt, er sei ein Wrack. Er hasst Politik und politische Verstrickungen, und er will meinen Job nicht.
»Sie lassen mich gut aussehen«, sagt er. »Schon immer, Dr. Scarpetta. Womöglich werde ich jetzt zum Chef ernannt. Was mache ich dann? Ich weiß es nicht.« Er fährt sich mit den Fingern durch die Haare und verliert noch mehr. »Ich wünschte nur, alles wäre wieder wie früher.«
»Glauben Sie mir, ich auch«, sage ich, als das Telefon klingelt und Turk abnimmt.
»Da fällt mir ein«, sagt Jack. »Wir bekommen hier unten merkwürdige Anrufe.
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