Das letzte Revier
Habe ich Ihnen das erzählt?«
»Einmal war ich dabei«, erwidere ich. »Jemand, der behauptete, Benton zu sein.«
»Das ist ja krank«, sagt er angewidert. »Das ist der einzige, von dem ich weiß«, füge ich hinzu. »Dr. Scarpetta?«, ruft Turk. »Es ist für Sie. Paul.« Ich gehe zum Telefon. »Wie geht es Ihnen, Paul?«, frage ich Paul Monty, den Direktor aller gerichtsmedizinischen Labors von Virginia.
»Als Erstes will ich Ihnen sagen, dass wir hier alle hinte r Ihnen stehen, Kay«, sagt er. »So ein Schwachsinn. Ich habe die ganze Scheiße gelesen und hätte am liebsten meinen Kaffee ausgekotzt. Und wir arbeiten uns die Hacken ab.« Damit meint er die Analyse der Beweise. Eigentlich sollten Beweise in egalitärer Reihenfolge untersucht werden - kein Opfer sollte wichtiger als ein anderes genommen und bevorzugt behandelt werden. Aber es gibt eine unausgesprochene Übereinkunft wie bei der Polizei, wenn ein Polizist ermordet wird. Der Fall hat Priorität. So ist es nun einmal. »Ich habe ein paar interessante Testergebnisse, die ich Ihnen persönlich mitteilen wollte«, fährt Paul Monty fort. »Die Haare von dem Campingplatz - von denen Sie vermuteten, dass sie von Chandonne stammen? Nun, die DNS stimmt überein. Noch interessanter sind die Ergebnisse des Faservergleichs. Die Fasern, die wir auf der Matratze in Brays Schlafzimmer gefunden haben, stammen von den Baumwolllaken von dem Campingplatz.« Ein Szenario nimmt Gestalt an. Chandonne nahm Diane Brays Laken mit zu dem Campingplatz, nachdem er sie ermordet hatte. Vielleicht schlief er drauf. Vielleicht wollte er sie nur loswerden. Wie auch immer, wir wissen jetzt mit Sicherheit, dass Chandonne im Fort James Motel war. Mehr hat Paul im Moment nicht zu berichten. »Was ist mit der Zahnseide, die wir in der Toilette gefunden haben?«, frage ich ihn. »In dem Zimmer, wo Matos ermordet wurde.«
»Bislang kein Treffer. Die DNS ist weder von Chandonne noch von Bray oder einem der anderen üblichen Verdächtigen«, sagt er. »Vielleicht von einem früheren Gast. Hat vielleicht gar nichts mit unserem Fall zu tun.«
Ich kehre zu Jack zurück, und er erzählt von den merkwürdigen Anrufen. Es waren mehrere.
»Einmal bin ich rangegangen, und die Person, ein Mann, hat nach Ihnen gefragt, behauptet, er sei Benton, und dann aufgelegt«, erzählt Jack. »Beim zweiten Mal war Turk dran. Der Typ sagt, Turk solle Ihnen ausrichten, er käme eine Stund e später zum Abendessen, sein Name sei Benton, und dann legt er auf. Das zusammen mit all dem anderen. Kein Wunder, dass mir die Haare ausfallen.«
»Warum haben Sie mir nichts gesagt?« Geistesabwesend nehme ich Polaroidfotos in die Hand, die Benny White auf der Bahre zeigen, bevor er ausgezogen wurde.
»Ich dachte, Sie hätten genug um die Ohren. Aber ich hätte es Ihnen sagen sollen. Mein Fehler.«
Der Anblick des Jungen in seinem Sonntagsstaat auf einer Stahlbahre in einem offenen Leichensack ist so widersinnig. Es macht mich todtraurig, als ich sehe, dass seine Hose ein bisschen zu kurz ist und er zwei verschiedene Socken anhat, eine blaue und eine schwarze. Ich fühle mich elend. »Haben Sie etwas Überraschendes gefunden?« Ich habe genug über meine Probleme geredet. Sie erscheinen mir belanglos, wenn ich die Fotos von Benny sehe und an seine Mutter denke.
»Ja, eine Sache verstehe ich nicht«, sagt Jack. »Mir wurde erzählt, dass Benny von der Kirche nach Hause kam und gar nicht erst ins Haus ging. Er steigt also aus dem Wagen, läuft zur Scheune und sagt, er komme gleich wieder, aber er wolle zuerst noch sein Taschenmesser suchen - er meint, er habe vergessen, es aus seinem Angelkasten zu nehmen, als er vor ein paar Tagen vom Angeln zurückgekommen sei. Er kehrt nie zurück. Das heißt, er hat nicht zu Mittag gegessen. Aber der Magen des Jungen war voll.«
»Wissen Sie, was er gegessen hatte?«, frage ich. »Ja. Popcorn. Und vermutlich Hotdogs. Also rufe ich bei ihm zu Hause an und spreche mit seinem Stiefvater. Ich frage, ob Benny in der Sonntagsschule vielleicht etwas gegessen hat, und man sagt mir nein. Sein Stiefvater hat keine Ahnung, wo er was gegessen haben könnte«, sagt Jack.
»Merkwürdig. Er kommt also von der Kirche nach Hause, geht in den Wald, um sich zu erhängen, legt aber irgendw o einen Zwischenstopp ein, um erst mal Popcorn und Hotdogs zu essen?« Ich stehe auf. »Da stimmt was nicht.«
»Wenn der Mageninhalt nicht wäre, würde ich sagen, es ist zweifelsfrei Selbstmord.« Jack bleibt
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