Das letzte Revier
dass sie Rhodes-Stipendiatin war oder dass sie nach der Wahl Clintons als Justizministerin gehandelt wurde und laut Time insgeheim erleichtert war, als Janet Reno ernannt wurde. Berger wollte ihre Arbeit als Staatsanwältin nicht aufgeben. Angeblich hat sie aus demselben Grund Richterämter und wahnwitzige Angebote privater Kanzleien abgelehnt; ihre Kollegen bewundern sie s o sehr, dass von ihnen in Harvard, wo sie die ersten Jahre studierte, in ihrem Namen ein Stipendium für Jurastudenten eingerichtet wurde. Über ihr Privatleben ist kaum etwas in Erfahrung zu bringen - außer dass sie Tennis spielt, extrem gut selbstverständlich. Dreimal in der Woche trainiert sie morgens in einem Fitnessclub unter Anleitung eines Trainers, und zudem läuft sie drei oder vier Meilen täglich. Ihr Lieblingsrestaurant ist das Primola. Es tröstet mich, dass sie italienisches Essen mag. Es ist Mittwoch, früher Abend, und Lucy und ich sind Weihnachtsgeschenke kaufen. Ich habe rumgestöbert und gekauft, so viel ich ertragen kann, mit all den Sorgen, die mir die Gedanken vergiften, meinem Arm, der in seinem Kokon aus Gips juckt wie verrückt, und einer an Sucht grenzenden Gier nach Tabak. Lucy ist irgendwo in der Regency Mall und kümmert sich um ihre eigene Einkaufsliste, und ich suche nach einem Ort, wo ich der brodelnden Menschenmenge entgehen kann. Tausende haben bis drei Tage vor Weihnachten gewartet, um geistreiche und originelle Geschenke für jene zu kaufen, die in ihrem Leben von Bedeutung sind. Stimmen und ständige Bewegung zusammen verursachen einen Lärm, der Nachdenken und normale Unterhaltung unmöglich macht, und die Berieselung mit Weihnachtsmusik strapaziert meine sowieso schon gereizten Nerven. Ich stehe vor dem Schaufenster von Sea Dream Leather, mein Rücken den uneinträchtigen Menschen zugewandt, die in verschiedene Richtungen eilen, anhalten und freudlos weiterdrängen wie ungeschickte Finger auf den Tasten eines Klaviers. Ich drücke mein Handy fest ans Ohr und fröne einer neuen Sucht. Wahrscheinlich zum zehnten Mal höre ich heute meinen Anrufbeantworter ab. Das Mobiltelefon wurde zu meiner kleinen geheimen Verbindung mit meiner früheren Existenz. Die hinterlassenen Nachrichten anzuzapfen ist der einzige Weg, der nach Hause führt.
Vier Nachrichten wurden hinterlassen. Rose, meine Sekretärin, hat angerufen, um sich zu erkundigen, wie es mi r geht. Meine Mutter hat sich lang und breit über das Leben beschwert. Der AT&T Kundenservice hat versucht, mich wegen einer Rechnungsfrage zu erreichen, und mein Stellvertreter, Jack Fielding, möchte mich sprechen. Ich rufe ihn sofort an.
»Ich kann Sie kaum hören«, dringt mir seine heisere Stimme in das eine Ohr, während ich das andere mit der Hand zuhalte. Im Hintergrund höre ich eins seiner Kinder weinen. »Ich kann hier nicht gut sprechen«, sage ich. »Ich auch nicht. Meine ExFrau ist da. Frieden der Welt.«
»Was ist los?«, frage ich ihn.
»Eine New Yorker Staatsanwältin hat angerufen.« Ich erschrecke, zwinge mich aber, gelassen, ja gleichgültig zu klingen, als ich ihn nach dem Namen der Person frage. Er erklärt, dass Jaime Berger ihn vor ein paar Stunden zu Hause angerufen habe. Sie wollte wissen, ob er bei den Autopsien, die ich bei Kim Luong und Diane Bray durchgeführt habe, assistiert habe. »Das ist ja interessant«, sage ich. »Ihre Nummer steht doch nicht im Telefonbuch. «
»Righter hat sie ihr gegeben«, sagt er.
Paranoia breitet sich in mir aus. Der Verrat schmerzt. Righter gab ihr Jacks Nummer und nicht meine? »Warum hat er ihr nicht gesagt, dass sie mich anrufen soll?«, frage ich ihn. Jack wartet einen Augenblick, weil sich ein weiteres Kind in den aufgebrachten Chor in seinem Haus mischt. »Ich weiß es nicht. Ich habe ihr erklärt, dass ich nicht offiziell assistiert habe. Sie haben die Autopsien durchgeführt. Ich stehe in den Protokollen nicht als Zeuge. Ich habe ihr geraten, unbedingt mit Ihnen zu sprechen.«
»Wie hat sie darauf reagiert?«
»Sie hat angefangen, mir Fragen zu stellen. Offenbar hat sie Kopien der Berichte.«
Wieder Righter. Kopien des Berichts vom Pathologen und der Autopsieprotokolle gehen an die Staatsanwaltschaft. Mir is t schwindlig. Es scheint, als würden zwei Staatsanwälte hinter meinem Rücken agieren, und Angst und Verwirrung sammeln sich wie eine Armee aggressiver Ameisen, belagern mein Inneres, greifen meine Seele an. Was im Moment passiert, ist unheimlich und grausam. Es übertrifft alles, was
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