Das letzte Revier
Lucy erklärt, dass irgendjemand so oder so auf diese Idee verfallen wäre und dass die Intimsphäre gesetzestreuer Bürger geschützt werden müsse. Das ATF weiß nichts von ihren unternehmerischen Aktivitäten oder von ihren Investitionen in Internet-Technologien und Aktien. Bis zu diesem Augenblick hatten nur ihr Finanzberater und Teun McGovern Kenntnis von der Tatsache, dass Lucy mehrfache Millionärin ist und sich einen eigenen Helikopter bestellt hat.
»Deswegen war Teun in der Lage, ihr eigenes Unternehmen in einer verboten teuren Stadt wie New York zu gründen«, sage ich. »Genau. Und das ist auch der Grund, weswegen ich nicht gegen das ATF kämpfen werde, oder zumindest ist es einer von mehreren guten Gründen. Wenn ich mich mit ihnen anlegen würde, käme wahrscheinlich heraus, was ich in meiner Freizei t getan habe. Und dann würden sie erst recht anfangen zu graben. Und während sie mich an ihr bürokratisches Scheißkreuz nageln würden, fänden sie immer noch mehr Nägel, die sie mir ins Fleisch treiben könnten. Und warum sollte ich mir das antun?«
»Wenn du nicht gegen Unrecht kämpfst, werden andere darunter zu leiden haben, Lucy. Und diese Leute haben vielleicht keine Millionen, einen Helikopter und ein Unternehmen in New York, auf das sie sich stützen können, wenn sie ein neues Leben anfangen müssen.«
»Genau darum geht es doch dem Letzten Revier«, entgegnet sie. »Wir wollen gegen Unrecht ankämpfen. Aber ich will es eben auf meine Art machen.«
»Die Schwarzarbeit gehört aus juristischer Sicht nicht zu den Vorwürfen, die das ATF gegen dich zu erheben scheint, Lucy«, sagt die Rechtsanwältin in mir.
»Nebenverdienste dieser Art untergraben vermutlich meine Glaubwürdigkeit, meinst du nicht?«, argumentiert sie für die andere Seite.
»Hält das ATF dich für nicht glaubwürdig? Werfen sie dir Unaufrichtigkeit vor?«
»Das nicht. Sie werden es nicht schriftlich formulieren. Bestimmt nicht. Aber Tatsache ist, Tante Kay, dass ich mich nicht an die Regeln gehalten habe. Wenn man für das ATF, das FBI oder eine andere Bundesbehörde arbeitet, wird erwartet, dass man nicht nebenher noch Geld verdient. Ich halte nichts von dieser Regelung. Sie ist nicht fair. Polizisten dürfen nebenher arbeiten. Wir nicht. Vielleicht habe ich schon immer gewusst, dass meine Tage beim Staat gezählt sind.« Sie steht vom Tisch auf. »Deswegen habe ich für meine Zukunft vorgesorgt. Vielleicht hängt mir einfach alles zum Hals raus. Ich will nicht den Rest meines Lebens Befehle von anderen entgegennehmen.«
»Wenn du vom ATF weg willst, dann sollte es dein e Entscheidung sein, nicht ihre.«
»Es ist meine Entscheidung«, sagt sie mit einer Spur Zorn in der Stimme. »Und jetzt geh ich besser einkaufen.« Arm in Arm gehe ich mit ihr zur Tür. »Danke«, sage ich. »Es bedeutet mir sehr viel, dass du es mir erzählt hast.«
»Ich werde dir beibringen, wie man Hubschrauber fliegt.« Sie zieht ihren Mantel an.
»In Ordnung«, sage ich. »Ich habe mich heute schon in höchst ungewöhnlichem Luftraum bewegt. Auf einen mehr oder weniger kommt es da auch nicht mehr an.«
6
Jahrelang machte der abgeschmackte Witz die Runde, dass die Leute aus Virginia der Kunst wegen nach New York fahren und die New Yorker ihren Müll nach Virginia bringen. Bürgermeister Giuliani sorgte fast für einen zweiten Bürgerkrieg, als er in seiner damals durch die Presse gehenden Auseinandersetzung mit dem damaligen Gouverneur von Virginia, Jim Gilmore, einen hinterhältigen Vorstoß machte, um Manhattan das Recht zu sichern, Megatonnen Müll aus dem Norden auf unseren südlichen Deponien abzuladen. Die Reaktion der Leute, wenn bekannt wird, dass wir jetzt auch noch in Sachen Gerechtigkeit nach New York müssen, will ich mir gar nicht vorstellen.
So lange, wie ich die Gerichtsmedizin von Virginia leite, leitet Jaime Berger die Abteilung für Sexualverbrechen der Staatsanwaltschaft von Manhattan. Wir sind uns zwar nie begegnet, werden jedoch häufig im gleichen Atemzug erwähnt. Es heißt, ich wäre die berühmteste Gerichtsmedizinerin des Landes und sie die berühmteste Staatsanwältin. Auf diese Behauptung entgegnete ich bislang stets, dass ich nicht berühmt sein will und Menschen, die es sind, nicht traue.
Während der letzten Tage habe ich Stunden an Annas Computer verbracht und im Internet über Jaime Berger recherchiert. Ich wollte mich nicht beeindrucken lassen, aber es gelang mir nicht. Zum Beispiel wusste ich nicht,
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