Das letzte Revier
meiner Haut, bis ich in ihm mein Spiegelbild erkannte. Im Augenblick bin ich so aus dem Gleichgewicht, dass ich bereit bin, die Fehler, die er mir vorhält, als wahr anzuerkennen. Als ich mein Telefon in die Tasche stecke, sieht er mich vor dem Schaufenster stehen, Einkaufstüten zu meinen Füßen, und ich winke ihm. Es dauert etwas, bis er seine massige Gestalt durch die vielen geschäftigen Menschen manövriert hat, die Besseres zu tun haben, als an Mörder oder Prozesse oder Staatsanwältinnen aus New York zu denken. »Was machst du hier?«, fragt er mich, als hätte ich verbotenes Gelände betreten.
»Ich kaufe dein Weihnachtsgeschenk«, sage ich. Er beißt wieder von der Brezel ab. Es scheint, als hätte er nichts als die Brezel gekauft. »Und du?«, frage ich.
»Wollte mich dem Weihnachtsmann auf den Schoß setzen und fotografieren lassen.«
»Lass dich nicht aufhalten.«
»Hab Lucy angerufen. Sie hat mir gesagt, wo ich dich i n diesem Zoo am wahrscheinlichsten finde. Dachte, du brauchst jemand, der deine Taschen trägt, weil du im Moment ja ein bisschen gehandicapt bist. Wie willst du mit diesem Ding Autopsien machen?« Er deutet auf meinen Gips.
Ich weiß, warum er hier ist. Ich höre das entfernte Grollen von Information, die sich wie eine Lawine auf mich zuwälzt. Ich seufze. Langsam, aber sicher sehe ich der Tatsache ins Gesicht, dass es in meinem Leben noch schlimmer kommen wird. »Okay, Marino, was ist los?«, frage ich ihn. »Was ist jetzt wieder passiert?«
»Doc, es wird morgen in den Zeitungen stehen.« Er beugt sich vor, um meine Taschen aufzuheben. »Righter hat vorhin angerufen. Die DNS stimmt überein. Sieht so aus, als hätte unser Wolfsmann vor zwei Jahren die Wetterfrau in New York abgeschlachtet. Und offenbar hat das Arschloch beschlossen, dass es ihm gut genug geht, um das MCV zu verlassen, und hat nichts dagegen, nach New York überstellt zu werden - er freut sich wie ein Schneekönig, aus Virginia rauszukommen. Ein merkwürdiger Zufall, dass der Dreckskerl sich überlegt, am selben Tag aus der Stadt zu verschwinden, an dem der Trauergottesdienst für Bray stattfindet.«
»Was für ein Trauergottesdienst?« Aus allen Richtungen prallen Gedanken aufeinander. »In Saint Bridget's.«
Ich habe nicht gewusst, dass Bray katholisch war und der gleichen Kirchengemeinde angehörte wie ich. Ein unheimliches Gefühl krabbelt mein Rückgrat hoch. Gleichgültig, in welchen Welten ich mich bewege, es scheint ihre Mission gewesen zu sein, sich dort Einlass zu verschaffen und mich zu verdrängen. Dass sie das auch in meiner bescheidenen Kirche versucht hat, zeigt mir erneut, wie ruchlos und arrogant sie war.
»Chandonne wird also am selben Tag aus Richmond geschafft, an dem wir uns von der letzten Frau verabschieden, die er kaltgemacht hat«, fährt Marino fort und wirft einen Blic k auf jeden, der an uns vorbeikommt. »Glaub bloß nicht, dass dieses Timing Zufall ist. Was immer er tut, die Medien werden sich auf ihn stürzen. Er wird Bray übertrumpfen, ihr die Schau stehlen, denn die Journalisten werden sich viel mehr für ihn interessieren als dafür, wer auftaucht, um einem seiner Opfer die letzte Ehre zu erweisen. Wenn überhaupt jemand auftaucht. Ich gehe jedenfalls nicht hin nach der ganzen Scheiße, die sie veranstaltet hat, um mich glücklich zu machen. Und übrigens, Berger ist in diesem Augenblick unterwegs nach Richmond. Mit so einem Namen feiert man vermutlich nicht Weihnachten«, fügt er hinzu.
Wir entdecken Lucy im selben Moment, als eine Bande lauter rabaukenhafter Jungen über sie spottet. Sie tragen den neuesten angesagten Haarschnitt, überweite Hosen hängen von ihren schmalen Hüften, und sie glotzen ihr ungeniert nach, lechzen nach meiner Nichte, die schwarze Strumpfhosen, abgestoßene Armeestiefel und eine alte Fliegerjacke aus einem Secondhand-Laden trägt. Marino bedenkt ihre Verehrer mit einem Blick, der töten würde, könnte finsteres, hasserfülltes Starren Haut durchdringen und lebenswichtige Organe perforieren. Die Jungen gehen im Zickzack und hüpfen herum, schlurfen in riesigen ledernen Basketballschuhen davon und erinnern mich an Welpen mit viel zu großen Pfoten.
»Was hast du mir gekauft?«, fragt Marino Lucy. »Einen Jahresvorrat an Macawurzel.«
»Was zum Teufel ist das?«
»Wenn du das nächste Mal mit einer wirklich heißen Tussi bowlen gehst, wirst du mein kleines Geschenk zu schätzen wissen«, sagt sie.
»Du hast ihm nicht wirklich Macawurzel
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