Das letzte Revier
mein Supervisor. Es spricht nichts dagegen, dass wir Freundinnen sind.«
Meine Fingerabdrücke befinden sich überall. Ihre Enttäuschung, ihre Kränkung sind der Fingerabdruck meines gemeinen Tuns. Schlimmer noch, ich höre Dorothys Echo in meiner Stimme. Ich schäme mich, schäme mich sehr. »Lucy, tu t mir Leid.« Ich lange hinüber und nehme ihre Hand in die Fingerspitzen meiner eingegipsten Linken. »Ich möchte nur nicht, dass du mich verlässt. Ich bin egoistisch. Entschuldige.«
»Ich verlasse dich nicht. Ich werde immer wieder kommen. Mit dem Hubschrauber sind es nur zwei Stunden. Das geht.« Sie blickt zu mir. »Warum arbeitest du nicht für uns, Tante Kay?« Was sie ausgesprochen hat, ist keine plötzliche Eingebung gewesen, das ist mir klar. Offenbar haben sie und McGovern ziemlich ausführlich über mich diskutiert, unter anderem was meine mögliche Rolle in ihrer Firma angeht. Ich habe ein merkwürdiges Gefühl. Bislang habe ich dem Impuls widerstanden, über meine Zukunft nachzudenken, und jetzt steht sie plötzlich als großer leerer Bildschirm vor mir. Ich weiß zwar, dass mein bisheriges Leben der Vergangenheit angehört, aber mein Herz muss diese Wahrheit erst noch akzeptieren. »Warum machst du dich nicht selbstständig und lässt dir nicht länger vom Staat vorschreiben, was du zu tun hast?«, fährt Lucy fort. »Hast du darüber schon mal ernsthaft nachgedacht?«
»Das habe ich mir immer für die Zukunft aufgehoben«, sage ich. »Die Zukunft ist da«, erwidert sie. »Das zwanzigste Jahrhundert endet in genau neun Tagen.«
7
Es ist fast Mitternacht. Ich sitze vor dem Feuer in dem handgeschnitzten Schaukelstuhl, der das einzige rustikale Möbelstück in Annas Haus ist. Sie hat ihren Sessel so gestellt, dass sie mich sehen kann, ich sie jedoch nicht anblicken muss, wenn ich sensibles Beweismaterial in meiner eigenen Psyche finde. In letzter Zeit habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich nie vorher weiß, worauf ich während meiner Gespräche mit Anna stoßen werde, als wäre ich der Schauplatz eines Verbrechens, den ich zum ersten Mal untersuche. Die Lichter im Wohnzimmer sind ausgeschaltet, das Feuer glimmt nur noch, schwelende Scheite glühen in allen Schattierungen von Orange, während ich Anna von einem Sonntagabend im November vor etwas über einem Jahr erzähle, als Benton sich mir gegenüber ungewöhnlich feindselig verhielt. »Wenn du ungewöhnlich sagst, was meinst du damit?«, fragt Anna in ihrem bestimmten, ruhigen Tonfall.
»Er war an mein Herumwandern spätabends, wenn ich nicht schlafen konnte, wenn ich aufblieb und arbeitete, gewöhnt. In der fraglichen Nacht schlief er beim Lesen im Bett ein. Das war nichts Ungewöhnliches, und es war das Zeichen dafür, dass ich jetzt Zeit für mich hatte. Ich sehne mich nach Stille, nach absolutem Alleinsein, wenn der Rest der Welt schläft und nichts von mir will.«
»Verspürst du dieses Bedürfnis schon immer?«
»Ja«, sage ich. »Dann werde ich wach. Ich bin ganz bei mir, wenn ich absolut allein bin. Ich brauche diese Zeit. Unbedingt.«
»Was ist an jenem Abend passiert?«
»Ich stand auf und nahm ihm das Buch aus den Händen, schaltete das Licht aus«, antworte ich. »Was las er?«
Ihre Frage überrascht mich. Ich muss nachd enken. Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine mich zu erinnern, dass Benton ein Buch über Jamestown las, die erste dauerhafte Siedlung der Engländer in Amerika, die sich eine knappe Stunde östlich von Richmond befindet. Er interessierte sich sehr für Geschichte und hatte einen doppelten Abschluss in Geschichte und Psychologie. Seine Neugier auf Jamestown wurde geweckt, als Archäologen dort zu graben begannen und die ursprüngliche Festung entdeckten. Langsam erinnere ich mich wieder: Das Buch, das Benton las, war eine Sammlung von Geschichten, viele davon verfasst von John Smith. Den Titel weiß ich nicht mehr, sage ich zu Anna. Vermutlich ist das Buch noch irgendwo bei mir zu Hause, und die Vorstellung, eines Tages zufällig darauf zu stoßen, schmerzt mich. Ich fahre fort mit meiner Geschichte.
»Ich verließ das Schlafzimmer, schloss leise die Tür und ging in mein Arbeitszimmer«, sage ich. »Du weißt ja, dass ich Gewebeproben von jedem Organ und manchmal auch von Wunden nehme, wenn ich eine Autopsie mache. Das Gewebe wird im histologischen Labor zu Dias verarbeitet, die ich begutachten muss. Da ich im Büro mit der Arbeit immer hinterherhinke, nehme ich die Dias routinemäßig mit nach Hause,
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