Das letzte Revier
der eine Gelegenheit erkennt und zu nutzen weiß. I n seinen Augen ist es unklug, eine Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen, Zeit mit ihm und anderen mächtigen Persönlichkeiten Virginias zu verbringen, und sei es auch nur ein Moment, besonders in dieser Zeit. Ja, besonders jetzt.
»Die Staatsanwältin aus New York ist in der Stadt.« Ich muss nicht erwähnen, weshalb. »Ich bin unterwegs, um mich mit ihr zu treffen, Gouverneur. Ich hoffe, Sie verstehen.«
»Ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn wir beide uns auch mal wieder sehen würden.« Er klingt bestimmt. »Ich wollte Sie heute Abend beiseite nehmen.«
Ich habe das Gefühl, auf Glasscherben zu treten und nicht hinuntersehen zu wollen aus Angst, dass ich vielleicht blute. »Wann immer es Ihnen recht ist, Gouverneur Mitchell«, antworte ich respektvoll.
»Warum schauen Sie nicht auf dem Nachhauseweg vorbei?«
»Ich werde noch ungefähr zwei Stunden beschäftigt sein«, sage ich zu ihm.
»Dann bis nachher, Kay. Grüßen Sie Ms. Berger«, fährt er fort. »Als ich Generalstaatsanwalt war, hatten wir mal einen Fall, an dem ihr Büro beteiligt war. Ich werde Ihnen bei Gelegenheit davon erzählen.«
Von der Vierten Straße aus sieht der geschlossene Eingangsbereich, in dem die Leichen angeliefert werden, aus wie ein quadratischer grauer Iglu, der seitlich an das Gebäude angehängt ist. Ich fahre die Rampe hinauf und halte vor einem massiven Garagentor. Mehr als frustriert stelle ich fest, dass ich keine Möglichkeit habe hineinzukommen. Die Fernbedienung für die Tür befindet sich in meinem Wagen, der seinerseits in der Garage meines Hauses steht, aus dem ich verbannt wurde. Ich wähle die Nummer des Wachmanns, der abends Dienst tut. »Arnold?«, sage ich, als er nach dem sechsten Klingeln abnimmt. »Könnten Sie bitte die Tür in der Einfahrt aufmachen?«
»Ja, Ma'am.« Er klingt eine bisschen groggy und verwirrt, als hätte ich ihn gerade geweckt. »Sofort, Ma'am. Funktioniert Ihr Schlüssel nicht?«
Ich versuche, geduldig mit ihm zu sein. Arnold ist einer der Menschen, die von Trägheit überwältigt werden. Er kämpft beständig gegen die Schwerkraft. Die Schwerkraft gewinnt immer. Ich muss mich permanent daran erinnern, dass es sinnlos ist, mich über ihn aufzuregen. Hoch motivierte Menschen bewerben sich nicht auf eine Stelle wie seine. Berger steht hinter mir, und hinter ihr steht Marino, alle warten wir darauf, dass die Tür aufgeht und uns in das Reich der Toten einlässt. Mein Handy klingelt. »Na, ist das nicht gemütlich?«, raunt Marino mir ins Ohr. »Offenbar kennen sie und der Gouverneur sich.«
Ich sehe, wie ein dunkler Van hinter Marinos mitternachtsblauem Crown Victoria auf die Rampe fährt. Die Garagentür beginnt sich kreischend zu heben.
»Aha. Glaubst du, er hat was damit zu tun, dass der Wolfsmann nach Big Apple verfrachtet wurde?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, gestehe ich. Die Einfahrt ist groß genug, um alle vier Wagen aufzunehmen, und wir steigen gleichzeitig aus, das Brummen der Motoren und Schlagen der Türen hallt zwischen den Betonwänden wider. Kalte, schroffe Luft peinigt erneut meinen gebrochenen Ellbogen, und ich bin verblüfft, Marino in Anzug und Krawatte zu sehen. »Gut siehst du aus«, sage ich trocken. Er zündet sich eine Zigarette an, sein Blick hängt in Bergers nerzumhüllter Gestalt, die sich in ihren Mercedes beugt, um etwas vom Rücksitz zu nehmen. Zwei Männer in langen dunklen Mänteln öffnen die Heckklappe des Van, und eine Bahre mit ihrer unheilvollen, verhüllten Fracht wird sichtbar.
»Ob du es glaubst oder nicht«, sagt Marino, »ich wollte zu dem Trauergottesdienst, so aus Jux, aber dann beschließt dieser Kerl, sich abmurksen zu lassen.« Er deutet auf die Leiche hinte n im Van. »Ist ein bisschen komplizierter, als wir zuerst dachten. Vielleicht mehr als nur ein Fall von urbaner Erneuerung.« Berger kommt auf uns zu, beladen mit Büchern, Akkordeonordnern und einer festen ledernen Aktentasche. »Sie sind gut vorbereitet.« Marino starrt sie ausdruckslos an. Aluminium klackt, als die Beine der Bahre aufklappen. Die Heckklappe wird zugeschlagen. »Ich danke Ihnen beiden, dass Sie so kurzfristig Zeit hatten«, sagt Berger.
Im grellen Licht der Einfahrt bemerke ich die feinen Linien in ihrem Gesicht und auf ihrem Hals, ihre etwas eingefallenen Wangen, die ihr Alter preisgeben. Bei flüchtigem Hinsehen oder wenn sie sich für die Kameras zurecht gemacht hat, könnte
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