Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
Irritation. »Sie hatten ihn schon in den Sack gesteckt, als ich ankam. Dumm wie Bohnenstroh, alle miteinander.«
    Der Mann auf den Polaroids ist hellhäutig mit ebenmäßigen Zügen und kurzen, stark gelockten, dottergelb gefärbten Haaren. In seinem linken Ohrläppchen steckt ein kleiner goldener Reif. Ich sehe sofort, dass die Verbrennungen nicht von einem Auspuffrohr stammen können, denn dann wären sie elliptisch geformt und nicht wie diese vollkommen rund, von der Größe eines Silberdollars und blasig. Er war am Leben, als er sie bekam. Ich schaue Marino lange an. Er zieht die Verbindung und atmet laut aus, schüttelt den Kopf. »Wissen wir, wer er ist?«, frage ich ihn.
    »Wir haben keine Ahnung.« Er fährt sich über die Haare, die in dieser Phase seines Lebens aus einem grauen Kranz bestehen , den er über seinen breiten, kahlen Schädel frisiert. Er würde wesentlich besser aussehen, wenn er sie schneiden lassen würde. »Niemand in der Gegend kennt ihn, und von meinen Leuten hat ihn auch noch keiner auf den Straßen dort gesehen.«
    »Ich muss mir die Leiche sofort anschauen.« Ich stehe vom Tisch auf.
    Marino schiebt seinen Stuhl zurück. Berger beobachtet mich aus durchdringenden blauen Augen. Sie hat aufgehört, ihre Papiere auszubreiten. »Macht es Ihnen was aus, wenn ich mitkomme?«, fragt sie.
    Es macht mir was aus, aber sie ist nun mal da. Und sie ist vom Fach. Es wäre unglaublich unhöflich von mir, anzudeuten, dass sie sich nicht professionell verhalten oder ich ihr nicht trauen würde. Ich gehe nach nebenan und hole meinen Kittel. »Ich nehme mal an, du weißt nicht, ob der Mann vielleicht homosexuell war? Das ist wohl keine Gegend, in der Homosexuelle rumfahren oder auf der Straße stehen«, sage ich zu Marino, als wir aus dem Besprechungszimmer gehen. »Gibt es in Mosby Court männliche Prostituierte?«
    »Er sieht so aus, jetzt, wo du es sagst«, sagt Marino. »Ein Polizist meinte, dass er ein hübscher Kerl war, durchtrainierter Körper und so. Er trug einen Ohrring. Aber wie gesagt, ich habe die Leiche nicht mit eigenen Augen gesehen.«
    »Ihnen gebührt ein Preis für Denken in Stereotypen«, sagt Berger zu ihm. »Und ich dachte schon, meine Leute wären schlimm.«
    »Ach ja? Was für Leute?« Marino ist kurz davor, ihr gegenüber höhnisch zu werden.
    »Meine Abteilung«, sagt sie etwas herablassend. »Die Ermittlungsbeamten.«
    »Ach ja? Sie haben ihre eigenen Polizisten? Das ist ja goldig. Wie viele?«
    »Ungefähr fünfzig.«
    »Sie arbeiten in Ihrer Abteilung?« Ich höre es seinem To nfall an. Er hat Angst vor Berger.
    »Ja.« Sie spricht jetzt ohne eine Spur Verachtung oder Arroganz, sondern begnügt sich mit den Fakten.
    Marino geht vor ihr. »Das ist ja ein Ding«, sagt er über die Schulter gewandt.
    Die Männer vom Transportdienst stehen bei Arnold im Büro und plaudern. Er wirkt verlegen, als ich auftauche, als hätte ich ihn bei etwas erwischt, was er nicht hätte tun dürfen, aber er ist einfach nur Arnold, ein ängstlicher, stiller Mann. Wie eine Motte, die die Farbe ihrer Umgebung annimmt, hat seine blasse Haut einen ungesunden grauen Ton, und auf Grund chronischer Allergien sind seine Augen rot gerändert und tränen. Der zweite John Doe dieses Tages steht mitten auf dem Flur, in einem burgunderroten Sack, auf den der Name des Transportunternehmens gedruckt ist, Whitkin Brothers. Plötzlich erinnere ich mich an die Namen der zwei Männer. Es sind die Whitkin-Brüder. »Ich kümmere mich um ihn.« Ich erkläre den Brüdern, dass sie den Toten nicht erst in einen Kühlraum rollen oder auf eine andere Bahre verladen müssen. »Wir machen das schon«, versichern sie mir nervös, als hätte ich impliziert, sie würden herumtrödeln.
    »Ist gut. Ich muss ihn mir erst ansehen«, sage ich und schiebe die Bahre durch die doppelten Stahltüren. Dann verteile ich Überschuhe und Handschuhe. Es dauert ein bisschen, bis ich John Doe ins Autopsiebuch eingetragen, ihm eine Nummer zugewiesen und ihn fotografiert habe. Ich rieche Urin.
    Der Autopsiesaal glänzt hell und sauber, er ist ungewöhnlich leer und still. Die Stille ist eine Erleichterung. Nach den vielen Jahren macht mich der ständige Lärm von in Stahlbecken klatschendem Wasser, von Strykersägen, von Stahl, der gege n Stahl kracht, noch immer angespannt und müde. Im Leichenschauhaus kann es erstaunlich laut zugehen. Die Toten machen mit lauten Forderungen und blutigen Verfärbungen auf sich aufmerksam, und dieser neue

Weitere Kostenlose Bücher