Das letzte Revier
interessieren, wem zumindest so viel an Bray lag, dass er in die Kirche kommt. Und wem nicht.« Ich versuche, logisch zu sein. »Hat sie dir nicht gesagt, dass sie hin will? Gestern Abend, als ihr euch getroffen habt?« Endlich bin ich mit der Sprache rausgerückt. Ich will wissen, was bei diesem Treffen los war. »Davon hat sie nichts gesagt«, antwortet er. »Sie interessierte anderes.«
»Zum Beispiel? Oder hast du Geheimnisse vor mir?«, füge ich etwas spitz hinzu. Er schweigt einen langen Augenblick.
»Hör mal, Doc«, sagt er schließlich, »es ist nicht mein Fall. Es ist New Yorks Fall, und ich tue nur, was man mir sagt. Wenn du was wissen willst, dann frag sie, weil sie es verdammt noch mal so will.« Seinem Tonfall ist Unmut anzuhören. »Und ich bin mitten im wunderschönen Mosby Court und habe anderes zu tun, als jedes Mal zu springen, wenn sie mit ihren schicken Großstadtfingern schnippt.« Mosby Court ist nicht die herrschaftliche Wohngegend, die der Name nahe legt, sondern eins von sieben Sozialbaugebieten in der Stadt. Vier davon sind nach berühmten Männern aus Virginia benannt: einem Schauspieler, einem Pädagogen, einem reichen Tabakfarmer, einem Helden aus dem Bürgerkrieg. Ich hoffe, dass Marino nicht deswegen in Mosby Court ist, weil wieder einmal eine Schießerei stattgefunden hat. »Du bringst mir doch nicht schon wieder Arbeit, oder?«, frage ich ihn. »Bloß wieder ein minder schwerer Mord.«
Ich lache nicht über diese bigotte Ausdrucksweise - diesen zynischen Spitznamen für einen jungen Schwarzen, der durch mehrfache Schüsse getötet wurde, wahrscheinlich auf der Straße, wahrscheinlich wegen Drogen, wahrscheinlich trug er teure Sportkleidung und Basketballschuhe, und niemand hat etwas gesehen. »Ich treff dich in der Einfahrt«, sagt Marino verdrossen. »In fünf bis zehn Minuten.«
Es hat gänzlich aufgehört zu schneien, und die Luft ist warm genug, um die Stadt nicht durch gefrierenden Matsch lahm zu legen. Die Innenstadt hat sich für die Feiertage herausgeputzt, die Skyline ist mit weißen Lichtern geschmückt, manche davon ausgebrannt. Vor dem James Center haben sich eine Menge Menschen eingefunden, um ein Rentier aus Licht zu betrachten, und auf der Neunten Straße glüht das Capitol wie ein Ei durch die kahlen Äste alter Bäume, daneben ein blassgelbes elegantes Herrenhaus mit Kerzen in jedem Fenster. Ich sehe, wie Paare in Abendkleidung auf dem Parkplatz aus ihren Autos steigen, und siedend heiß fällt mir ein, dass der Gouverneur heute ein e Weihnachtsparty für wichtige Staatsbedienstete veranstaltet. Vor über einem Monat habe ich meine Zusage geschickt. O Gott. Gouverneur Mike Mitchell und seiner Frau Edith wird nicht entgehen, dass ich fehle, und der Impuls, auf den Parkplatz abzubiegen, ist so stark, dass ich den Blinker setze. Ebenso schnell schalte ich ihn wieder aus. Ich kann nicht hingehen, nicht einmal für eine Viertelstunde. Was sollte ich mit Jaime Berger machen? Sie mitnehmen? Sie allen vorstellen? Ich lächle resigniert und schüttle den Kopf in meinem dunklen Cockpit, während ich mir vorstelle, mit welchen Blicken ich bedacht würde, und mir ausmale, was passieren würde, wenn die Presse davon erführe.
Da ich mein ganzes Arbeitsleben für Regierungen gearbeitet habe, weiß ich die Wichtigkeit der weltlichen Seite des Lebens zu schätzen. Die Privatnummer des Gouverneurs ist eingetragen, und die Auskunft verbindet mich für fünfzig Cent weiter. Ein Wachmann ist am anderen Ende, und bevor ich erklären kann, dass er nur eine Nachricht übermitteln soll, lässt er mich warten. In regelmäßigen Abständen erklingt ein Ton, als würde die Dauer meines Anrufs gemessen, und ich frage mich, ob die Anrufe auf Band aufgenommen werden. Jenseits der Broad Street geht ein alter heruntergekommener Stadtteil in das neue Glas- und-Klinker-Reich von Biotech über, dessen Anker das Gebäude der Gerichtsmedizin ist. Ich schaue im Rückspiegel nach Bergers Geländewagen. Sie telefoniert, und es beunruhigt mich, sie Worte sprechen zu sehen, die ich nicht hören kann.
»Kay?«, ertönt plötzlich Gouverneur Mitchells Stimme über Annas Freisprechanlage.
Meine eigene Stimme hat einen überraschten Klang, während ich ihm eilig erkläre, dass ich ihn nicht stören wollte und es mir furchtbar Leid täte, seine Party heute Abend zu versäumen. Er antwortet nicht sofort, sein Zögern sagt mir jedoch, dass ich einen Fehler mache, wenn ich nicht komme. Mitchell ist ein Mann,
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