Das letzte Revier
zuhört. Ich blende Harris aus. Nie zuvor habe ich so einen sterilen, oberflächlichen Trauergottesdienst erlebt, und ich bin entsetzt. Die Liturgie, die Lieder und Gebete, nichts zeugt von Leidenschaft und Liebe, weil Diane Bray niemanden liebte, nicht einmal sich selbst. Von ihrem habgierigen, überehrgeizigen Leben ist nichts geblieben. Wir gehen schweigend hinaus in den rauen dunklen Abend, um in unsere Autos zu steigen und zu flüchten. Ich schreite schnell aus mit gesenktem Kopf, so wie ich es immer tue, wenn ich Menschen meiden will. Ich höre Geräusche, spüre jemanden in meinem Rücken und drehe mich um, als ich die Wagentür aufschließe. Jemand steht hinter mir. »Dr. Scarpetta?« Die feinen Züge der Frau werden vom unregelmäßigen Schein der Straßenlampen akzentuiert, ihre Augen liegen in tiefen Schatten. Sie trägt einen langen Nerzmantel. Ich meine, sie von irgendwoher zu kennen. »Ich dachte nicht, dass Sie hier sein würden, aber ich freue mich, Sie zu sehen«, sagt sie. Ich erkenne den New Yorker Akzent und erschrecke, bevor ich wirklich begreife. »Ich bin Jaime Berger«, sagt sie und hält mir eine behandschuhte Hand hin. »Wir müssen miteinander reden.«
»Sie waren in der Kirche?«, sind die ersten Worte, die ich herausbringe. Ich habe sie dort nicht gesehen. Ich bin paranoid genug, um in Betracht zu ziehen, dass Jaime Berger überhaupt nicht in der Kirche war, sondern auf dem Parkplatz auf mich gewartet hat. »Haben Sie Diane Bray gekannt?«, frage ich sie. »Ich bin dabei, sie kennen zu lernen.« Berger schlägt den Mantelkragen hoch, ihr Atem bildet Wölkchen. Sie blickt auf ihre Uhr und drückt auf einen Knopf. Das Zifferblatt leuchtet grün auf. »Sie fahren nicht zufälligerweise zurück in Ihr Büro?«
»Das hatte ich nicht vor, aber ich kann zurückfahren«, sage ich nicht gerade begeistert. Sie will über die Morde an Kim Luong und Diane Bray sprechen. Und natürlich interessiert sie sich für die nicht identifizierte Leiche aus dem Hafen - von der wir alle annehmen, dass es sich um Chandonnes Bruder Thomas handelt. Aber wenn dieser Fall jemals vor Gericht verhandelt wird, fügt sie hinzu, dann nicht in diesem Land. Auf diese Weise bringt sie mir bei, dass Thomas Chandonne auch ein ungesühntes Opfer bleiben wird. Jean-Baptiste hat seinen Bruder umgebracht und wird nicht dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Ich setze mich auf den Fahrersitz des Navigators.
»Wie gefällt Ihnen Ihr Wagen?«, stellt sie eine scheinbar alberne, unangemessene Frage. Ich fühle mich bereits unter die Lupe genommen und habe sofort den Eindruck, dass Berger nichts ohne Grund tut oder fragt. Sie mustert den luxuriösen Geländewagen, den Anna mich fahren lässt, während mein eigener Wagen merkwürdigerweise immer noch nicht freigegeben ist.
»Er ist geliehen. Sie folgen mir besser, Ms. Berger«, sage ich. »Es gibt Stadtteile, in denen Sie sich nach Einbruch der Dunkelhe it nicht verfahren sollten.«
»Könnten Sie vielleicht Pete Marino auftreiben?« Sie deute t mit einem elektronischen Schlüssel auf ihren eigenen Geländewagen, einen Mercedes ML430 mit New Yorker Nummernschild, und Scheinwerfer leuchten auf, als die Türverriegelung aufschnappt. »Es wäre vielleicht gut, wenn wir alle zusammen miteinander reden.«
Ich lasse den Motor an und fröstele in der Dunkelheit. Der Abend ist nass, und eisiges Wasser tropft von den Bäumen. Die Kälte schleicht sich unter meinen Gips, sucht sich einen Weg in die Risse in meinem gebrochenen Ellbogen und dringt zu den empfindlichsten Stellen vor, wo Nervenenden und Knochenmark zu Hause sind, und sie beginnen sich mit einem heftigen Pochen zu beschweren. Ich page Marino und stelle fest, dass ich die Nummer von Annas Autotelefon nicht weiß. Ich krame in meiner Tasche nach meinem Handy, während ich mit den Fingerspitzen meiner linken Hand lenke und im Rückspiegel nach Bergers Scheinwerfern Ausschau halte. Lange Minuten später ruft mich Marino an. Ich erzähle ihm, was passiert ist, und er reagiert mit gewohntem Zynismus, aber darunter höre ich eine unterschwellige Aufregung heraus, vielleicht Wut, vielleicht etwas anderes. »Also, ich glaube nicht an Zufälle«, sagt er scharf. »Du gehst zu Brays Trauergottesdienst, und zufällig taucht Berger dort auf? Warum zum Teufel war sie überhaupt dort?«
»Ich weiß es nicht«, erwidere ich. »Aber wenn ich neu in der Stadt wäre und die beteiligten Personen nicht kennen würde, würde ich mich dafür
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