Das letzte Revier
Verbrennungen und die Abschürfungen in den Mundwinkeln und um die Handgelenke.
»Himmel«, sagt Marino. »Was zum Teufel ist das? Irgendein Serienmörder, der die Leute fesselt und sie mit einem Föh n foltert?«
»Wir müssen Stanfield sofort über den neuen Fall informieren«, sage ich zu ihm, denn es liegt auf der Hand, dass zwischen dem toten John Doe aus dem Motel und der Leiche, die in Mosby Court gefunden wurde, eine Verbindung besteht. Ich sehe Marino an und kann seine Gedanken lesen. »Ich weiß.« Er gibt sich keine Mühe, seine Verachtung für Stanfield zu verbergen. »Wir müssen ihn informieren, Marino«, füge ich hinzu. Wir verlassen den Kühlraum, und er geht zu dem Telefon an der Wand, das nur mit »sauberen Händen« benutzt werden darf. »Finden Sie allein zurück in das Besprechungszimmer?«, frage ich Berger.
»Sicher.« Sie wirkt abwesend, versunken in eigene Gedanken. »Ich komme gleich nach«, sage ich zu ihr. »Entschuldigen Sie mich kurz.«
Sie steht in der Tür, bindet ihren Kittel auf. »Komisch. Aber vor ein paar Monaten hatte ich einen ähnlichen Fall, eine mit einer Heißluftpistole gefolterte Frau. Die Verbrennungen sahen ziemlich genauso aus wie in Ihren beiden Fällen.« Sie beugt sic h vor, zieht die Überschuhe aus und wirft sie in den Abfall. »Geknebelt, gefesselt und diese runden Verbrennungen im Gesicht und auf den Brüsten.«
»Hat man den Täter gefasst?«, frage ich sofort, nicht erfreut über die Parallele.
»Ein Bauarbeiter, der in dem Haus arbeitete, in dem sie wohnte«, sagt sie stirnrunzelnd. »Mit der Heißluftpistole wurde alte Farbe entfernt. Ein echter Idiot, der absolute Verlierer - er ist um drei Uhr morgens in ihre Wohnung eingebrochen, hat sie vergewaltigt, stranguliert und so weiter, und als er ein paar Stunden später wieder raus ist, war sein Wagen geklaut. Willkommen in New York. Er ruft die Polizei, setzt sich in den Streifenwagen, einen Matchsack auf dem Schoß, und zeigt seinen gestohlenen Wagen an. Zur gleichen Zeit kommt die Haushälterin des Opfers, findet die Leiche, schreit hysterisch und ruft die Polizei. Der Mörder sitzt im Streifenwagen, als die Polizei auftaucht, und versucht abzuhauen. Verdächtig. Es stellt sich raus, dass das Arschloch eine Wäscheleine und eine Heißluftpistole im Matchsack hat.«
»Wurde groß darüber berichtet?«, frage ich. »In New York. Die Times und die Boulevardblätter.«
»Hoffentlich hat sich ihn niemand zum Vorbild genommen«, sage ich.
10
Man erwartet von mir, dass ich jeden Anblick, jedes Bild, jeden Geruch, jeden Laut verkrafte, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich darf auf Entsetzliches nicht wie normale Menschen reagieren. Mein Job ist es, Schmerz zu rekonstruieren, ohne ihn zu empfinden, Grauen heraufzubeschwören, ohne mich von ihm verfolgen zu lassen. Ich soll mich in Jean-Baptiste Chandonnes sadistische Kunst vertiefen, ohne mir vorzustellen, dass ich sein nächstes Werk der Verstümmelung hätte sein sollen.
Er ist einer der wenigen Mörder, die mir im Leben begegnet sind, der aussieht, wie das, was er tut, das klassische Monster. Doch er ist nicht den Seiten von Mary Shelley entsprungen. Er ist real. Er ist hässlich, sein Gesicht besteht aus zwei ungleichen Hälften, ein Auge liegt tiefer als das andere, seine Zähne stehen weit auseinander, sind klein und spitz wie die eines Tiers. Sein gesamter Körper ist bedeckt mit langen, pigmentlosen Babyhaaren, aber es sind seine Augen, die mich am meisten verstören. Ich sah die Hölle in seinem starren Blick, eine Lust, die die Atmosphäre zu erhellen schien, als er sich einen Weg in mein Haus erzwang und mit einem Tritt die Tür hinter sich zustieß. Seine bösartige Intuition und Intelligenz sind augenfällig, und obwohl ich mich dazu anhalte, keinerlei Mitleid mit ihm zu empfinden, weiß ich, dass das Leiden, das Chandonne verursacht, eine Projektion seines eigenen Unglücks ist, eine temporäre Realisierung des Alptraums, den er mit jedem Schlag seines hasserfüllten Herzens erduldet. Berger wartete in meinem Besprechungszimmer, und während sie mir jetzt durch einen Flur folgt, erkläre ich ihr, dass Chandonne an einer seltenen Krankheit namens >erbliche Hypertrichose< leidet. Nur einer unter einer Milliarde Menschen wird davon betroffen, wenn man den Statistiken glauben darf. Vor ihm war mir nur ei n einziger anderer Fall dieser grausamen genetischen Missbildung bekannt, als ich als Assistenzärztin in Miami arbeitete und durch die
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