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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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ist vollkommen auf diesen Punkt fixiert und lässt mich nicht aus den Augen.
    »Es schien wie...« Ich suche nach Worten. Es gibt keine Grundlage für einen Vergleich. »Wie ein Flattern...« Meine Stimme erstirbt, während ich ins Leere starre, ohne zu blinzeln, schwitzend und frierend.
    »Wie ein Flattern?« Berger klingt etwas ungläubig. »Können Sie mir erklären, was Sie damit meinen?«
    »Es ist, als ob die Realität verzerrt wird, ein Kräuseln, als ob Wind Wasser kräuselt, so wie eine Pfütze, wenn Wind darüber weht, alle Sinne sind plötzlich hellwach, wenn der animalische Überlebensinstinkt das Gehirn überflutet. Man hört, wie sich die Luft bewegt. Man sieht es. Alles ist wie in Zeitlupe, endlos. Man sieht alles, jedes Detail dessen, was passiert, und man nimmt wahr.«
    »Man nimmt wahr?«, treibt Berger mich weiter. »Ja, man nimmt wahr«, fahre ich fort. »Ich habe die Haare auf seinen Händen wahrgenommen, die das Licht einfingen wie transparente Fäden, wie eine Angelleine, nahezu durchscheinend. Ich habe wahrgenommen, dass er nahezu glücklich aussah.«
    »Glücklich? Was meinen Sie damit?«, fragt mich Berger ruhig. »Lächelte er?«
    »Ich würde es anders beschreiben. Nicht so sehr ein Lächeln als vielmehr die primitive Freude, die Lust, den rasenden Hunger, den man in den Augen eines Tiers sieht, wenn ihm gleich frisches rohes Fleisch vorgeworfen wird.« Ich hole tief Luft, fixiere die Wand gegenüber, den Kalender mit der weihnachtlichen Schneelandschaft. Berger sitzt steif da, die Hände reglos auf der Tischplatte. »Das Problem ist nic ht, was man beobachtet, sondern was man erinnert«, drücke ich mich etwas klarer aus. »Ich glaube, der Schock verursacht einen Festplattenfehler, und anschließend kann man sich nicht mit der gleichen intensiven Aufmerksamkeit an die Einzelheiten erinnern. Vielleicht gehört auch das zum Überleben.
    Vielleicht müssen wir bestimmte Dinge vergessen, damit wir sie nicht immer wieder durchleben. Vergessen ist Teil des Heilungsprozesses. Wie die Joggerin im Central Park, die von einer Bande verschleppt, vergewaltigt, geschlagen und halb to t liegen gelassen wurde. Warum sollte sie sich erinnern wollen? Ich weiß, dass Sie den Fall gut kennen«, füge ich in ironischem Tonfall hinzu. Es war selbstverständlich Bergers Fall.
    Staatsanwältin Berger verändert ihre Sitzhaltung. »Aber Sie erinnern sich«, sagt sie ruhig. »Und Sie haben gesehen, was Chandonne mit seinen Opfern macht. >Schwere Gesichtsverletzungen<.« Sie überfliegt laut Kim Luongs Autopsiebericht. »>Massive Splitterbrüche im rechten Scheitelbein. Bruch des rechten Stirnbeins. der sich entlang der Mittellinie. bilaterale subdurale Hämatome. Risse im zerebralen Gewebe und Blutungen der Spinnwebenhaut. eingedrückte Brüche, die die Tabula des Schädels in das darunter liegende Hirn trieben. Brüche wie in Eierschalen. Blutgerinnsel.<«
    »Blutgerinnsel legen nahe, dass das Opfer noch mindestens sechs Minuten nach Zufügung der Verletzungen lebte.« Ich übernehme wieder die Rolle der Dolmetscherin der Toten. »Eine verdammt lange Zeit«, sagt Berger, und ich kann mir vorstellen, wie sie die Geschworenen sechs Minuten schweigend da sitzen lässt, nur um ihnen vorzuführen, wie lange das ist. »Die eingedrückten Gesichtsknochen und hier« - ich berühre ein Foto - »die Haut wurde von Schlägen mit einem Gegenstand aufgerissen und zerfetzt, der ein Muster aus runden und geraden Verletzungen hinterließ.«
    »Er hat sie mit einer Pistole geschlagen.«
    »In diesem Fall, dem Fall Luong, ja. In Brays Fall benutzte er eine Art Hammer.«
    »Einen Maurerhammer.«
    »Wie ich sehe, haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht.«
    »Eine meiner komischen Angewohnheiten«, sagt sie. »Er handelte vorsätzlich«, fahre ich fort. »Er hat die Waffen zu den Tatorten mitgenommen und nicht irgendetwas benutzt, was er dort vorfand. Und auf diesem Foto hier« - ich deute auf ei n anderes Schreckensbild - »sieht man Abdrücke von seinen Fingerknöcheln. Er hat also auch seine Fäuste benutzt, um sie zu schlagen, und aus diesem Winkel sehen wir ihren Pullover und ihren BH auf dem Boden. Es scheint, er hat sie ihr mit bloßen Händen vom Leib gerissen.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Unter dem Mikroskop sieht man, dass die Fasern zerrissen und nicht durchgeschnitten sind«, entgegne ich.
    Berger starrt auf ein Leichendiagramm. »Ich glaube, ich habe noch nie so viele von einem Menschen zugefügte Bisswunden gesehen.

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