Das letzte Riff
ausarbeiten, um ihn dem neuen Flaggoffizier zu präsentieren.«
»Schläfst du eigentlich je, Thomas?« fragte Bolitho.
»Genug.«
»Gab’s noch andere Neuigkeiten vom Postschiff?«
Herrick brauchte ein paar Augenblicke, um wieder in die Gegenwart zurückzukehren. »Man hat uns eine zweite Fregatte angekündigt. Die
Ipswich
mit achtunddreißig Kanonen, unter Kapitän Pym.«
»Nie von ihr gehört.«
»Sie kommt aus meinem Teil Englands, von der Nore.« Er wechselte das Thema. »Du hast doch von Gossage gehört.« Seine Lippen wurden schmal. »Jetzt Konteradmiral Gossage. Wem war seine Aussage soviel wert?«
Auf diesem einsamen und zeitlich begrenzten Kommando dachte Herrick also immer noch an das Kriegsgericht.
»Thomas, mach’s dir nicht so schwer«, riet Bolitho. »Das alles liegt hinter dir.«
Herrick sah ihn neugierig an. ›Könntest du es denn an meiner Stelle?‹ schien er zu fragen.
Bolitho beharrte: »Das Leben hat dir noch viel zu bieten.«
»Kann sein.« Herrick saß steif da, das leere Glas in seinen großen Händen. »Ehrlich, Richard, ich bin froh, wieder etwas Sinnvolles tun zu können. Als ich von deinem Schicksal erfuhr …« Er schüttelte den Kopf. »Also nützen wir jeder unsere zweite Chance.«
»Wer weiß, was wir diesmal alles erreichen.«
Herricks Stimme klang bitter. »Die meisten hier draußen sind unwissende Narren. Sie haben keine Ahnung von dem, was sie erwartet. Soldaten mit rosa Wangen, mehr an die Sümpfe von Irland gewöhnt als an diese gottverlassenen Inseln. Und kommandierende Offiziere, die noch nie einen Schuß gehört haben.«
Bolitho sah ihn fragend an. »Stammt das von Nelson?« Herrick lachte. »Nein, von Shakespeare. Aber es hätte auch von Nelson stammen können.«
In der Pantry ging Allday Ozzard langsam auf die Nerven.
»Es läuft gut mit den beiden da drinnen.« Er dachte an die kleine Kneipe in Cornwall und kam zu seinem Anliegen. »Ob du mir wohl mal einen Brief schreibst, Tom?«
»Natürlich tue ich das, wenn ich nur meinen Frieden kriege.«
Der große Dreidecker lag ruhig vor Anker, seine offenen Stückpfosten spiegelten sich wie gelbe Augen im glatten Hafenwasser. Die Posten marschierten auf und ab, und in einem der Messedecks erklang eine Fiedel. Der wachhabende Offizier unterbrach sein Gespräch mit dem Gehilfen des Masters, als der Kommandant am leeren Doppelrad erschien. Aber Keen ging tief in Gedanken versunken zum Niedergang des Achterdecks.
Das Schiff und seine Besatzung – hervorragende Seeleute und Nichtskönner, Feiglinge und ehrliche Männer – hing von ihm und seinen Offizieren ab, von seinem Ersten bis zum piepsenden Midshipman, vom Schiffsarzt bis zum Gehilfen des Zahlmeisters.
Keen beobachtete das Wachboot, das langsam zwischen den ankernden Schiffen hindurch gepullt wurde. Licht spiegelte sich kurz in einem glänzenden Bajonett. Keen dachte an Sir Richard Bolitho und seinen alten Freund da unten in der Kajüte. Es war so schwierig, für alle beide: Der eine hatte alles, was er sich je gewünscht hatte, in seiner Geliebten gefunden. Der andere hatte mit seiner Frau alles, fast auch das eigene Leben, verloren.
Seevögel zogen durch den Lichtschein, der aus der Messe aufs Wasser fiel. Keen dachte an ihre Bootsfahrt. »Heute nacht werden sie in Afrika schlafen«, hatte Bolitho gesagt.
Womit würden sie für ihr Überleben bezahlen müssen?
Zenorias Gesicht erschien vor seinen Augen. Ihre Liebe war völlig unerwartet erwacht und hatte sie beide staunend, fast ungläubig, zurückgelassen. Zum erstenmal in seinem Leben gab es jemanden, der auf ihn wartete. Er spürte noch ihre letzte Umarmung, die Wärme ihres Körpers.
»Sir!« Ein Leutnant beugte sich über die oberste Stufe des Niedergangs.
»Was ist?«
»Mr. Julyan läßt ausrichten, der Wind dreht auf West und nimmt zu.«
»Sehr gut, Mr. Daubeny. Melden Sie das dem Ersten und rufen Sie die Backbordwache an Deck.«
Als der Leutnant davoneilte, verdrängte Keen alle privaten Gedanken. Oft genug hatte er Bolitho sagen hören: »Das war damals. Dies aber ist heute!«
Keen war wieder Kommandant.
Macht über Leben und Tod
Lady Catherine Somervell stand an einem der hohen Fenster des Bibliothekszimmers und schaute nach draußen in den Garten. Es schneite jetzt kräftiger, die Spuren von Lewis Roxbys schöner Kutsche waren schon zugeweht. Auf dem Teppich vor dem knisternden Kaminfeuer kniete Nancy und berichtete ihr von dem Verschwinden ihres Neffen Miles Vincent, der, wie sich
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