Das letzte Riff
endlich jenseits des Riffs in ruhigerem Wasser. Und sie waren allein auf weiter See.
Nach der Hitze des Spätnachmittags wirkte das große graue Haus unterhalb von Pendennis Castle erfrischend kühl. Die junge Frau löste den Knoten, der ihren Hut hielt, und ließ ihn über die Schultern auf ihr langes, sonnenwarmes Haar gleiten.
Wie still das Haus war! Sie nahm an, daß Ferguson, seine Frau und die Bediensteten vor dem Abendgottesdienst gemeinsam bei Tisch saßen. Sie hatte am Nachmittag Vergnügen daran gefunden, am Klippenrand entlang zu spazieren und den steilen Pfad zu dem halbrunden Strand hinunterzuklettern, wo sie gern Muscheln suchte. Ferguson hatte sie vor den Klippen gewarnt, und sie hatte pflichtgemäß zugehört, aber dabei an Zennor gedacht, wo sie aufgewachsen war. Nach Zennor kamen ihr alle Klippen harmlos vor.
Weil es Sonntag war, war sie außer einem Küstenwächter keinem Menschen begegnet. Der hatte durch sein Teleskop die glänzende See abgesucht. Er war freundlich gewesen wie alle hier. Doch sie fühlte sich auch von allen beobachtet, wenn sie zum Beispiel in die Stadt ging. Waren sie nur neugierig, oder mißtrauten sie nach Art der Einwohner Cornwalls allen Fremden?
Auch dieses Haus war ihr noch fremd. Sie trat an einen kleinen Tisch, dessen Holz vom Alter und vielen Polieren so glänzte, daß man es für Ebenholz halten konnte. Ihre Hand mit dem Ehering lag auf der Familienbibel. Noch immer schien er ihr überraschend fremd. Wann würde sie sich endlich an ihn gewöhnen? Es mußte sich etwas ändern, damit Valentine von ihr endlich die Liebe bekam, die er so brauchte.
Sie öffnete die schweren Messingverschlüsse und schlug die Bibel auf. Hier standen alle Bolithos, ihre Namen von unbekannter Hand notiert: ein Stammbaum wie eine Ehrenliste. Sie schauderte ein bißchen. Ihr war, als würden alle Porträts ringsum sie anstarren wie einen Eindringling.
Der Stammvater, Kapitän Julius Bolitho, war mit sechsunddreißig Jahren gefallen, hier in Falmouth im Bürgerkrieg, als er versuchte, die Blockade der Anhänger Cromwells zu durchbrechen. Sie hatte sich Pendennis Castle heute angesehen. Es war immer noch ein Ort, der einem Angst machen konnte.
Bolithos Ururgroßvater, Kapitän Daniel, war im Kampf gegen die Franzosen in der Bantry Bay gefallen, Kapitän David 1724 im Kampf gegen Piraten. Denziel Bolitho war vor Sir Richard der einzige, der es zum Flaggoffizier gebracht hatte. Sie lächelte, als sie daran dachte, wie mühsam sie sich mit den Gewohnheiten und Bezeichnungen der Navy vertraut gemacht hatte.
Und dann Bolithos Vater, Kapitän James, der in Indien einen Arm verloren hatte. Sie sah sich sein Porträt noch einmal genauer an, erkannte die Ähnlichkeit mit Sir Richard Bolitho und – sie zögerte schuldbewußt – mit Adam.
Und dann kam die letzte, ganz neue Eintragung in Bolithos schwungvoller Handschrift: über Adam, der den Namen Bolitho erhielt, um sicherzustellen, daß ein Bolitho das alles hier erben würde. Auf derselben Seite hatte Bolitho auch geschrieben: »Zur Erinnerung an meinen Bruder Hugh, Adams Vater, einst Leutnant in der Marine Seiner Britannischen Majestät, der am 7. Mai 1795 fiel. Der Ruf der Pflicht war ihm Weg zum Ruhm.«
Sorgfältig schloß Zenoria die Bibel wieder, als wolle sie alle darin ungestört ruhen lassen.
Nichts stand darin über die Frauen. Sie warteten zu Hause auf die Rückkehr ihrer Männer und fürchteten jeden Abschied aufs neue. Jeder konnte der letzte sein.
Zenoria dachte an ihren eigenen Mann und versuchte wieder, sich über ihre Gefühle für ihn klar zu werden. Sie war nicht in der Lage gewesen, ihm zu geben, was er so dringend verlangte. Sie war nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt liebte. Adam hatte ihr erklärt, warum sie Keen geheiratet hatte: aus Dankbarkeit. Er hatte sie vor dem sicheren Tod durch Auspeitschen gerettet und ihr seinen guten Namen gegeben. War Dankbarkeit wirklich alles? Hatte Valentine je richtig verstanden, was mit ihr geschehen war? Wie sollte sie ihn liebend begehren nach allem, was ihr widerfahren war? Als er in sie eindrang, hatte sie ihm Befriedigung und Liebe schenken wollen, doch sie hatte nur Schmerzen, Schreck und Ekel empfunden. Und hatte erwartet, daß er die Geduld verlor, daß er sie angewidert verstieß oder sie mit Brutalität nahm. Nichts von all dem war geschehen. Val hatte sie akzeptiert, wie sie war, und suchte alle Schuld bei sich selbst. Wenn er wiederkam, dann vielleicht … Wie oft
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