Das Letzte Ritual
stöhnte sie voller Anteilnahme. »Ich hab auch schon mal in einer Wohnung mit einer Tür zur gemeinsamen Waschküche gewohnt, wo man alles mitanhören musste. Man konnte fast jedes Wort verstehen. Ich fand das wirklich unangenehm.«
»Ja«, sagte die Frau zögernd. »Harald war ja meistens allein in der Waschküche – zum Glück. Ich weiß nicht, ob dieses Mädchen ihm bei der Wäsche half oder ob sie ihn nur nach unten begleitet hat, aber sie waren jedenfalls ziemlich erregt. Es ging um eine verschwundene Urkunde, wenn ich mich recht erinnere. Vielleicht war es ja diese hier.« Die Frau wies mit dem Kinn auf den alten Brief. »Harald bat das Mädchen, die Sache auf sich beruhen zu lassen; zuerst ganz ruhig, aber als sie eine Erklärung von ihm verlangte, warum er nicht hinter ihr stünde, regte er sich furchtbar auf. Sie wiederholte die ganze Zeit, es könnte sie in ihrem Studium voranbringen – was auch immer das bedeuten sollte. Mehr hab ich nicht gehört, ich bin ja wie gesagt auch nur vorbeigegangen.«
»Haben Sie die Stimme des Mädchens erkannt? Könnte es das kleine blonde Mädchen aus Haralds Clique gewesen sein?«, fragte Dóra erwartungsvoll.
»Nein, ich hab sie nicht erkannt«, sagte die Frau, jetzt wieder unfreundlicher. »Es kamen vor allem zwei hierher, eine große Rothaarige und eine, auf die Ihre Beschreibung passt. Sie sahen beide aus wie Nutten auf dem Weg zum Schlachtfeld – mit Kriegsbemalung und unförmiger Tarnkleidung. Beide wirklich unattraktiv und unfreundlich. Ich glaube, sie haben mich noch nicht mal gegrüßt, obwohl wir uns oft begegnet sind. Ich hätte ihre Stimmen nie erkannt.«
Obwohl Dóra der Frau zustimmte, dass Bríet und Marta Maria unfreundlich waren, fand sie die Mädchen keinesfalls unattraktiv. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass die Frau in Harald verliebt gewesen war und ihr seine Freundinnen nicht gepasst hatten. Es geschahen ja die merkwürdigsten Dinge. Dóra versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Na ja, es spielt ja sowieso keine Rolle. Das hat bestimmt nichts mit dem Fall zu tun.« Sie stand auf und nahm den Brief. »Vielen Dank noch mal, und Ihr Anliegen wegen der Wohnung werde ich weitergeben.«
Matthias stand ebenfalls auf und gab der Frau die Hand. Sie schaute ihn lächelnd an und er lächelte automatisch zurück. »Suchen Sie nicht zufällig eine Wohnung?«, fragte sie und legte dabei liebenswürdig ihre linke Hand auf Matthias’ Hand.
»Ja, äh nein, ich werde in der nächsten Zeit nicht nach Island ziehen«, sagte er verwirrt und versuchte, einen Grund zu finden, seine Hand wegzuziehen.
»Du könntest bestimmt auch jederzeit bei Bella wohnen«, sagte Dóra und grinste. Matthias warf ihr einen vernichtenden Blick zu, der sich ein wenig milderte, als die Frau seine Hand wieder freigab.
»Gib du ihm den Brief«, bat Dóra und versuchte, Matthias den großen Umschlag in die Hand zu drücken. Die Frau hatte den Brief in den Umschlag gesteckt, um weitere Beschädigungen zu vermeiden. Falls da überhaupt noch etwas zu retten war.
»Kommt nicht in Frage«, sagte Matthias und verschränkte die Arme. »Das war deine Idee. Ich werde nur dabeisitzen und euch beobachten – vielleicht reiche ich dem Mann ein Taschentuch, falls er beim Anblick des Fetzens in Tränen ausbricht.«
»Das letzte Mal habe ich mich so gefühlt, als ich gerade den Führerschein hatte und gegen den Wagen unseres Nachbarn gefahren bin«, erklärte Dóra. »Und ich hab den Brief ja noch nicht mal zerrissen.«
»Aber du überbringst die schlechte Nachricht«, konterte Matthias und schaute auf die Uhr. »Wann kommt er denn endlich? Ich muss mir noch was zu essen besorgen, bevor du Amelia triffst. Geht dieser Gastronomiefeiertag wirklich nur bis mittags?«
»Es wird nicht lange dauern, mach dir keine Sorgen. Du bekommst sehr bald was zu essen.« Vom anderen Ende des Flurs hörte Dóra Schritte und schaute auf. Gunnar kam schnellen Schrittes auf sie zu. Er hielt einen Stapel Papiere in der Hand und schien überrascht zu sein, sie zu sehen.
»Ich grüße Sie«, sagte er und angelte geschickt seinen Büroschlüssel aus der Jackentasche. »Sind Sie wegen mir hier?«
Matthias und Dóra erhoben sich. »Ja, guten Tag«, sagte Dóra. Sie wedelte mit dem Umschlag. »Wir möchten Sie fragen, ob dieser Brief, der am Wochenende gefunden wurde, derjenige ist, den Sie suchen.«
Gunnar strahlte auf. »Was sagen Sie da?«, sagte er, während er seine Bürotür öffnete. »Hereinspaziert.
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