Das Letzte Ritual
Sendetaste betätigt hatte, erschien schon Gylfis Antwort. Sie öffnete die Nachricht und las. »OK – wann kommst du nach Hause?« Dóra schrieb sofort zurück, sie komme gegen sechs. Ob es pure Einbildung war, dass Gylfi in letzter Zeit ziemlich großes Interesse daran hatte, wann genau sie nach Hause käme? Vielleicht wollte er einfach nur in Ruhe sein Computerspiel spielen. Jedenfalls fragte er auffallend häufig danach.
Bevor Dóra das Handy beiseitelegte, rief sie im Büro an, um auszurichten, sie sei in der nächsten Zeit nicht zu erwarten. Niemand nahm ab; stattdessen sprang der Anrufbeantworter nach dem fünften Klingeln an. Dóra hinterließ eine Nachricht und legte auf. Zu Bellas Hauptaufgaben gehörte der Telefondienst, aber bei den wenigen Malen, die Dóra im Büro anrufen musste, wurde nur selten abgenommen. Dóra seufzte. Sie wusste, dass es nichts bringen würde, das Thema schon wieder mit dieser Schnepfe von Sekretärin zu diskutieren. »Okay, ich bin so weit«, sagte sie zu Matthias, der die Zeit genutzt hatte, um seine Mahlzeit zu beenden. Dóra kippte den letzten Schluck Kaffee hinunter, bevor sie aufstand und ihren Mantel anzog.
Sie gingen zur Theke, wo Matthias die Rechnung bezahlte, bevor sie das Café verließen. Er betonte, dass alles auf Kosten der Familie Guntlieb ging. Dóra war sich nicht sicher, ob er das sagte, damit sie bloß nicht glaubte, er habe sie eingeladen und es handele sich um ein Rendezvous, oder ob es einfach eine reine Information war. Sie nickte nur beiläufig und bedankte sich.
Sie traten hinaus in die Kälte und gingen zum Parkhaus, in dem sie den Mietwagen geparkt hatten. Haralds Wohnung lag in der Bergstaðastræti, nicht weit von dem Café in der Hverfisgata entfernt. Dóra kannte sich gut im þingholtviertel aus, seit sie im Skólavörðustígur arbeitete. Sie konnte Matthias ohne Schwierigkeiten den Weg zeigen – obwohl das Viertel nicht groß war, verfuhr man sich in den engen Gassen schnell, wenn man sich nicht auskannte. Sie parkten direkt vor einem ehrwürdigen, weißen Steinhaus, einer der begehrenswertesten Immobilien im ganzen Viertel. Das Haus war gut gepflegt; Dóra konnte seinen Wert schwer einschätzen. Dies erklärte zumindest die Schwindel erregend hohe Miete, die sie in Haralds Mietvertrag gesehen hatte.
»Waren Sie schon mal in der Wohnung?«, fragte Dóra, als sie zum Seiteneingang des Hauses gingen. Der Haupteingang befand sich an der Straßenseite und führte zu der zweiten Wohnung im Parterre, wo die Hauseigentümer wohnten.
»Ja, sogar mehrmals«, antwortete Matthias. »Bisher war allerdings immer die Polizei dabei. Jemand musste bezeugen, dass sie Unterlagen und Gegenstände für Ermittlungszwecke mitnahmen und später wieder zurückbrachten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir die Wohnung wesentlich genauer durchsuchen werden als die Polizei. Sie hatten sich schon auf Hugi als Täter eingeschossen und die Wohnung nur noch zum Schein untersucht.«
»Ist die Wohnung denn genauso ungewöhnlich wie ihr ehemaliger Bewohner?«, wollte Dóra wissen.
»Nein, sie ist sehr gewöhnlich«, antwortete Matthias und steckte einen der beiden Schlüssel ins Haustürschloss. Die Schlüssel waren an einer kleinen isländischen Flagge als Schlüsselanhänger befestigt, und Dóra schloss daraus, dass er in einem der Touristenläden in der Stadt extra für diese Schlüssel gekauft worden war. Sie konnte sich Harald nicht so recht bei einer Shoppingtour zwischen Wollpullis und Stoffpapageientauchern vorstellen.
»Hereinspaziert!«, rief Matthias und öffnete die Tür.
Bevor Dóra eintreten konnte, kam eine junge Frau um die Straßenecke gelaufen. Sie rief ihnen in nahezu fehlerfreiem Englisch etwas zu. »Entschuldigen Sie«, japste sie und zog ihren kurzen Pullover nach unten, um sich vor der Kälte zu schützen. »Kommen Sie von Haralds Familie?«
Matthias reichte ihr die Hand und sagte auf Englisch: »Ja, guten Tag, wir sind uns schon mal begegnet, als ich die Schlüssel von Ihnen bekommen habe. Matthias.«
»Ja, das dachte ich mir«, entgegnete die Frau, schüttelte Matthias die Hand und lächelte. Sie war sehr attraktiv, schlank, mit schicker Frisur und gepflegtem Teint, eindeutig aus besseren Kreisen. Als sie lächelte, sah Dóra, dass die Frau wahrscheinlich nicht mehr ganz so jung war, wie sie aussah, denn um ihren Mund und ihre Augen bildeten sich kleine Fältchen. Die Frau gab auch Dóra die Hand. »Guten Tag, ich heiße Guðrún«, stellte
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