Das Letzte Ritual
verabscheute den Gesichtsausdruck derjenigen, die sich ein Herz fassten, um ihre Trauer über den verfrühten Tod des jungen Mannes und Mitgefühl für Gunnar auszudrücken, denn es kam immer etwas ganz anderes dabei heraus. Ihre Gesichter glühten vor Sensationslust und Erleichterung darüber, dass ihnen dies nicht selbst passiert war. Hätte er vielleicht doch den Rat des Rektors befolgen und sich einen zweimonatigen Forschungsurlaub nehmen sollen? Er war sich nicht sicher. Das Interesse der Leute würde nach einer gewissen Zeit vielleicht nachlassen, aber am Ende sowieso wieder aufflammen, sobald der Fall vor Gericht käme. Wenn er freinähme, würde er lediglich das Unumgängliche hinauszögern. Zu allem Überfluss entstünde dann eine Quelle für endlose Klatschgeschichten: Er säße in einer Nervenheilanstalt, würde zu Hause stinkbesoffen vor sich hin dämmern oder noch Schlimmeres. Nein, vermutlich war es die richtige Entscheidung, den Urlaub abzulehnen und das Ganze über sich ergehen zu lassen. Die Leute würde das Thema früher oder später langweilen und sie würden sich wie üblich von Gunnar fern halten.
Gunnar klopfte mehr aus Höflichkeit sanft an die Tür der Direktorin und öffnete sie dann abrupt, ohne auf ein »Herein« zu warten. Maria Einarsdóttir telefonierte, gab Gunnar aber mit einer Handbewegung zu verstehen, er solle Platz nehmen, was er auch tat. Er wartete ungeduldig auf das Ende des Telefonats, das sich um eine nicht gelieferte Tonerbestellung für den Drucker drehte.
Gunnar versuchte, sich seinen Unmut darüber nicht anmerken zu lassen. Als Maria ihn ein paar Minuten zuvor angerufen hatte, hatte sie von einer wichtigen Angelegenheit gesprochen und verlangt, er solle sofort zu ihr kommen. Er hatte die Arbeit, mit der er gerade beschäftigt gewesen war, beiseitegelegt; falls diese wichtige Sache mit dem Toner zu tun hatte, würde er ihr unverblümt seine Meinung sagen. Er war gerade dabei, sich einige Sätze zurechtzulegen, als sie auflegte und sich ihm zuwendete.
Bevor Maria das Wort ergriff, betrachtete sie Gunnar nachdenklich – so als wolle sie ihre Sätze sorgfältig auswählen. Sie klopfte mit den Fingern ihrer rechten Hand in einem schnellen Takt gegen die Schreibtischkante und stöhnte. »Mist«, sagte sie schließlich.
Jedenfalls hat sie sich nicht so viel Zeit gelassen, um ihre Ausdrucksweise zu verfeinern, dachte Gunnar und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie unpassend er es fand, dass die Direktorin des Árni-Magnússon-Instituts ein solches Wort in den Mund nahm. Seit Gunnar vor vierzig Jahren ein junger Mann gewesen war, hatten sich die Zeiten vollkommen geändert. Damals galt es als erstrebenswert, sich gut auszudrücken – jetzt fanden die Leute es nur noch lächerlich und gestelzt. Gunnar räusperte sich. »Was ist denn so wichtig, Maria?«
»Mist«, wiederholte sie und fuhr sich mit beiden Händen durch das kurz geschnittene Haar. Es war schon leicht ergraut und ein paar silberne Strähnen schimmerten an ihren Schläfen, als sie sich die Haare aus der Stirn strich. »Eine Urkunde ist verschwunden.« Kurzes Schweigen und dann: »Gestohlen.«
Gunnar zuckte zusammen. Er konnte seine Verwunderung und sein Unbehagen nicht verbergen. »Was meinst du eigentlich? Gestohlen? Aus der Sammlung?«
Maria stöhnte. »Nein. Nicht aus der Sammlung. Von hier, aus dem Institut.«
Gunnar blieb der Mund offen stehen. Aus dem Institut? »Wie ist das möglich?«
»Das ist eine gute Frage; es ist meines Wissens das erste Mal, dass hier so etwas passiert ist.« Mit scharfer Stimme fügte sie hinzu: »Wer weiß, vielleicht ist noch mehr verschwunden als dieser eine Brief.« Im Árni-Magnússon-Institut wurden ungefähr 1600 Handschriften und Teile von Handschriften aufbewahrt, dazu die ganzen Urkunden und etwa 150 Handschriften aus der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen. Maria starrte Gunnar direkt in die Augen. »Eines ist klar: Wir werden jedes einzelne Dokument überprüfen und herausfinden, ob noch weitere Urkunden fehlen. Ich wollte aber erst mal unter vier Augen mit dir sprechen, bevor wir die Sache öffentlich machen. Sobald ich eine Zählung anordne, wissen alle, was los ist.«
»Warum besprichst du das mit mir?«, fragte Gunnar verblüfft und ein bisschen nervös. Als Fakultätsleiter hatte er nicht viel mit der Handschriftensammlung zu tun. »Du willst mich ja wohl nicht beschuldigen, diesen Brief gestohlen zu haben?«
»Um Gottes willen, Gunnar. Ich erkläre
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