Das Letzte Ritual
sie, wie Matthias mit verwundertem Tonfall zu dem Arzt sagte: »Komisch. Obwohl sie zwei Kinder zur Welt gebracht hat.«
7. KAPITEL
Im Kulturhaus war nicht viel los. Dóra hatte diesen Ort ausgewählt, weil man sich hier in aller Ruhe unterhalten konnte, besser als in den meisten anderen Cafés in der Innenstadt. Dóra und Matthias saßen allein in einem Raum neben dem Hauptsaal des Lokals. Auf dem Mosaiktisch zwischen ihnen lag der gelbe Aktenordner mit dem Obduktionsbericht, den Matthias mitgenommen hatte.
»Nach einer Tasse Kaffee wird es Ihnen besser gehen«, sagte Matthias verlegen und schaute zur Tür, durch die das Mädchen mit der Bestellung soeben entschwunden war.
»Ich bin schon okay«, entgegnete Dóra scharf. Das stimmte sogar; die Übelkeit, die sie im Büro des Arztes überfallen hatte, war vorüber. Nachdem sie aus dem Raum gestürzt war, hatte sie am Flur eine Toilette gefunden und es geschafft, sich mit ein paar Spritzern Wasser wieder auf Vordermann zu bringen. Dóra hatte sich schon immer schnell geekelt und ihr fiel wieder ein, wie sehr sie die Lehrbücher ihres Ex-Mannes verabscheut hatte. Er hatte sie während seines Medizinstudiums immer im ganzen Haus verteilt. Die Bilder in den Lehrbüchern reichten jedoch nicht annähernd an das heran, was sie heute Morgen gesehen hatte. Dóra fügte mit versöhnlicher Stimme hinzu: »Ich weiß auch nicht, was los war. Ich hoffe, ich habe den Arzt nicht beleidigt.«
»Es sind ja schließlich nicht sehr appetitliche Fotos«, stellte Matthias fest. »Die meisten Leute würden so reagieren wie Sie. Machen Sie sich keine Gedanken über den Arzt. Ich habe ihm gesagt, Sie seien gerade von einer Magen-Darm-Erkrankung genesen und daher nicht in der besten Verfassung für solche Anblicke.«
Dóra nickte. »Was zum Teufel war das eigentlich? Ich glaube, das meiste habe ich erkannt, aber im Nachhinein bin ich mir nicht mehr so sicher …«
»Scheint so, als habe Harald alle möglichen Eingriffe an seinem Körper vornehmen lassen. Der Arzt meint, die ältesten sind mehrere Jahre alt und die jüngsten nur ein paar Monate.«
»Aber warum hat er das getan?«, fragte Dóra. Ihr war unbegreiflich, was einen jungen Menschen dazu veranlassen konnte, sich selbst zu entstellen.
»Gott weiß warum«, antwortete Matthias. »Harald war nie so wie die anderen. Seit ich seine Familie kenne, sympathisierte er immer mit gesellschaftlichen Randgruppen. Erst war es die Umweltbewegung, eine Zeit lang eine Antiglobalisierungsgruppe. Als er schließlich anfing, Geschichte zu studieren, dachte ich, er sei stabiler geworden.«
Dóra schwieg und dachte an die Fotos und den Schmerz, den Harald empfunden haben musste. »Was genau … –«
In diesem Moment kam die Bedienung mit dem Kaffee und den Snacks, die sie bestellt hatten. Sie bedankten sich und als das Mädchen gegangen war, ergriff Matthias das Wort. »Das waren alle möglichen chirurgischen Eingriffe und Schnitte. Am meisten hat mich seine Zunge schockiert. Sie haben bestimmt bemerkt, dass eines der Fotos Haralds Mundhöhle zeigte.« Dóra nickte und Matthias sprach weiter. »Er hat seine Zunge in der Mitte einschneiden, also der Länge nach spalten lassen. Sie sollte wohl so aussehen wie eine Schlangenzunge, und ich muss zugeben, dass ihm das ganz gut gelungen ist.«
»Konnte er damit noch normal sprechen?«, fragte Dóra.
»Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er deshalb ein bisschen lispelte. Das kann man aber nicht mit Sicherheit sagen. Der Arzt behauptet, ein solcher Eingriff sei beileibe kein Einzelfall. Verständlicherweise sehr selten, aber ein Vorreiter war Harald damit zumindest nicht.«
»Er wird es wohl kaum selbst gemacht haben? Wer führt denn solche Eingriffe durch?«, fragte Dóra.
»Es handelte sich um einen relativ frischen Eingriff, vermutet der Arzt. Die Wunde war noch nicht ganz verheilt. Jeder, der Zugang zu Betäubungsmitteln, Zangen und Skalpellen habe, könnte so etwas blitzschnell durchführen: Ärzte, Operationsschwestern, Zahnärzte. Der Betreffende müsste allerdings auch desinfizierende und schmerzstillende Medikamente verschreiben oder zumindest beschaffen können.«
»Mein Gott, da fällt einem ja nichts mehr zu ein«, sagte Dóra. »Und das ganze andere Zeug: die Kugeln, die Narben, die Abzeichen, die Kegel und Gott weiß was alles?«
»Dem Arzt zufolge hat Harald sich verschiedene Metallobjekte unter die Haut implantieren lassen, sodass ihre Konturen zu sehen sind. Unter anderem diese
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