Das Letzte Ritual
drei Nächte lang verhört worden, ohne ein Wort zu sagen, als Harald Wache hatte. Harald hatte seinem Vorgesetzten gegenüber erwähnt, er kenne sich mit Verhörmethoden aus, und bekam tatsächlich die Erlaubnis, in der Nacht zu versuchen, etwas aus dem Mann herauszubekommen.« Matthias schaute Dóra ins Gesicht. »Dieser Mann, der Harald die Erlaubnis erteilte, hatte selbstverständlich keinen blassen Schimmer, dass Harald sich in der Geschichte der Folter auskannte. Er war wahrscheinlich davon ausgegangen, Harald würde ab und zu die Nase durch die Tür stecken und dem Gefangenen ein paar ganz harmlose Fragen stellen.«
Dóra riss die Augen auf. »Hat er den Mann gefoltert?«
»Na ja, man könnte sagen, der Serbe hätte wahrscheinlich gern mit den nackten Männern aus der Pyramide in Abu Ghraib getauscht. Ich möchte die Vorkommnisse dort auf keinen Fall entschuldigen, aber verglichen mit dem, was dieser arme Mann in jener Nacht erleiden musste, waren sie wie eine Eröffnungfeier bei den Olympischen Spielen. Bei der Wachablösung am nächsten Morgen hatte Harald alles aus dem Mann herausbekommen, was dieser wusste – und wahrscheinlich noch einiges mehr. Aber anstatt gelobt zu werden, was Harald sich seiner Meinung nach redlich verdient hatte, wurde er sofort suspendiert – nachdem seine Vorgesetzten das menschliche Wrack gesehen hatten, das in seinem eigenen Blut auf dem Zellenfußboden lag. Das Ganze wurde natürlich runtergespielt und verheimlicht. In allen offiziellen Unterlagen steht, Harald habe aus gesundheitlichen Gründe die Armee verlassen.«
»Woher wissen Sie es denn dann?«, fragte Dóra, froh, nach etwas fragen zu können, das einigermaßen normal war.
»Ich habe meine Verbindungen«, antwortete Matthias mit ironischem Gesichtsausdruck. »Außerdem habe ich mich mit Harald unterhalten, als er aus dem Kosovo zurückkam. Er war völlig verändert, das kann ich Ihnen versichern. Ich weiß nicht, ob wegen seiner Erfahrungen mit Gewalt in der Armee oder warum auch immer. Er war jedenfalls noch seltsamer als vorher.«
»Wie denn?«, fragte Dóra neugierig.
»Einfach seltsam«, antwortete Matthias. »Sowohl äußerlich als auch in seinem Verhalten. Er ging danach ziemlich bald zur Uni – zog zu Hause aus, sodass man ihn nicht mehr allzu oft zu Gesicht bekam. Wenn wir uns seitdem noch ab und an begegneten, wurde jedes Mal deutlicher, dass er sich in einer Achterbahn befand – und die raste abwärts. Als sein Großvater kurz darauf starb, wurde es vermutlich noch schlimmer; die beiden standen sich sehr nahe.«
Dóra wusste nicht, was sie sagen sollte. Harald Guntlieb war gewiss kein einfacher Mensch. Sie spähte auf ihren Zettel und beschloss, nach den Opfern der sexuellen Würgespiele zu fragen, von denen in den Zeitungsausschnitten die Rede war. Aber eigentlich hatte sie genug. Sie warf einen Blick auf ihr Handy.
»Matthias, ich muss nach Hause. Meine Liste ist noch nicht zu Ende, aber ich muss das erst mal verdauen.«
Sie räumten die Unterlagen, die sie im Arbeitszimmer durchgewühlt hatten, flüchtig auf. Dabei achteten sie darauf, die Stapel, in die sie die Dokumente aufgeteilt hatten, nicht durcheinanderzubringen. Der Gedanke, die ganze Arbeit noch einmal zu machen, war unerträglich.
Als Dóra den letzten Stapel ordentlich beiseitegelegt hatte, wendete sie sich zu Matthias und fragte: »Hat Harald ein Testament gemacht – bei seinem hohen Vermögen?«
»Ja, es gibt ein Testament – ein ziemlich neues sogar«, erklärte Matthias. »Er hatte schon vor längerer Zeit eins gemacht, es aber Mitte September geändert. Er ist extra nach Deutschland gereist, um den Rechtsanwalt der Guntliebs zu treffen und sein Testament ändern zu lassen. Allerdings weiß niemand, was drinsteht.«
»Was?«, fragte Dóra verwundert. »Wieso nicht?«
»Es besteht aus zwei Teilen – mit der Anweisung, einen von ihnen zuerst zu öffnen. In diesem steht, dass der zweite Teil erst geöffnet werden darf, wenn die Beerdigung vorbei ist. Die hat aber aufgrund der Umstände noch nicht stattgefunden.«
»War das alles, was in dem Testament stand?«, fragte Dóra.
»Nein, es gab auch Anweisungen, wie er beerdigt werden wollte.«
»Wie denn?«
»In Island – was ein bisschen komisch ist, da er erst so kurze Zeit hier war. Das Land schien ihn auf gewisse Weise fasziniert zu haben. Außerdem stand in dem Testament, seine Eltern müssten bei der Beerdigung zugegen sein und mindestens zehn Minuten am Fußende des
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