Das Letzte Ritual
Grabes stehen, nachdem der Sarg hinabgelassen worden ist. Wenn sie das nicht tun, geht sein gesamtes Vermögen an einen Tattooladen in München.«
Dóra war bestürzt. »Hat er angenommen, seine Eltern würden gar nicht kommen?«
»Anscheinend«, sagte Matthias. »Mit dieser Bestimmung hat er das allerdings sichergestellt – seine Eltern haben kein Interesse daran, in der Zeitung zu stehen, weil ihr Sohn einem Tattooladen einen Haufen Geld vermacht hat.«
»Glauben Sie, seine Eltern werden ihn beerben?«, fragte Dóra. »Wenn sie denn bei der Beerdigung erscheinen.«
»Nein«, antwortete Matthias. »Seinen Eltern kann das im Grunde völlig egal sein – sie wollen nur nicht in die Klatschpresse kommen. Ich könnte mir vorstellen, dass Haralds Schwester Elisa einen Großteil von Haralds Vermögen erbt. Außerdem geht ein beträchtlicher Teil an jemanden in Island – der Anwalt hat das durchblicken lassen. Der zweite Teil des Testaments soll nach Haralds Anweisungen hier in Island verlesen werden.«
»Wer könnte das sein?«, fragte Dóra neugierig.
»Keine Ahnung«, antwortete Matthias. »Der- oder diejenige hätte zumindest einen guten Grund gehabt, Harald umzubringen – vorausgesetzt, er oder sie wusste von dem Testament.«
Dóra war erleichtert, als sie die Wohnung verließen. Sie war müde und wollte nach Hause zu ihren Kindern. Trotzdem spürte sie eine gewisse Unruhe. Sie hatte das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Aber wie sehr sie sich auch den Kopf darüber zerbrach, als sie allein in ihrem Werkstattauto saß, sie kam nicht darauf. Und als sie den Wagen in die Hauseinfahrt bugsierte, hatte sie es schon völlig vergessen.
12. KAPITEL
Ehescheidungen brachten nicht nur Vorteile mit sich, das wusste Dóra schon lange. Früher hatten ihrem Haushalt beispielsweise zwei Einkommen zur Verfügung gestanden, jetzt musste eins reichen. Es war kinderleicht gewesen, die Ausgaben und damit die Annehmlichkeiten zu erhöhen, zumindest konnte sich Dóra nicht an besondere Schwierigkeiten erinnern, als sie sich von einer armen Studentin in eine Arbeitnehmerin verwandelte. Eine andere Sache war jedoch, den Gürtel enger zu schnallen, was sie jetzt versuchte. Hannes, ihr Ex-Mann, war Unfallarzt – mit anderen Worten: Er hatte einen guten Job und ein hohes Einkommen. Nach der Scheidung musste Dóra daher einiges aufgeben. Jetzt war es nicht mehr selbstverständlich, essen zu gehen, Wochenendtrips ins Ausland zu machen, teure Klamotten zu kaufen oder andere Dinge zu tun, die typisch für das Leben von Leuten sind, für die Geld keine Rolle spielt. Auch wenn die Nachteile sich nicht ausschließlich um Finanzen drehten – Dóra fielen zum Beispiel sofort die »nichtsexuellen Spiele« ein –, vermisste sie am meisten die Frau, die zweimal in der Woche bei ihnen geputzt hatte. Als Dóra und Hannes sich trennten, musste sie ihr kündigen, denn das Geld reichte einfach nicht aus. Deshalb stand Dóra nun selbst vor dem Putzschrank und versuchte so gut es ging die Schranktür zu schließen, ohne den Staubsaugerschlauch zu zerquetschen, der immer wieder herausfiel. Endlich glückte es ihr und sie atmete tief durch. Dóra hatte alle Fußböden in dem etwa zweihundert Quadratmeter großen Haus gesaugt und war ganz zufrieden mit sich.
»Sieht das nicht viel besser aus?«, fragte sie ihre Tochter Sóley, die in eine Zeichnung vertieft in der Küche saß.
Das kleine Mädchen blickte auf. »Wie besser?«, fragte sie neugierig.
»Der Boden«, antwortete Dóra. »Ich habe gestaubsaugt. Sieht doch gut aus, oder?«
Sóley schaute auf den Fußboden und dann wieder zu ihrer Mama. »Hier hast du was vergessen.« Sie deutete mit einem grünen Wachsmalstift auf eine Fluse unter ihrem Stuhlbein.
»Oh, entschuldigen Sie, mein Fräulein«, sagte Dóra und gab ihrer Tochter einen Kuss auf den Scheitel. »Was zeichnest du denn da Schönes?«
»Das sind ich und du und Gylfi«, antwortete Sóley und zeigte auf drei unterschiedlich große Figuren auf ihrem Blatt. »Du hast ein schönes Kleid an und ich auch und Gylfi hat Shorts an.« Sie sah ihre Mutter an. »Auf dem Bild ist Sommer.«
»Wow, ich bin ja schick«, sagte Dóra. »So ein Kleid kaufe ich mir im Sommer.« Sie schaute auf die Uhr. »Komm jetzt Zähne putzen. Zeit, ins Bett zu gehen.«
Während Sóley ihre Stifte wegräumte, ging Dóra zu ihrem Sohn. Sie klopfte vorsichtig an seine Zimmertür, bevor sie eintrat. »Ist das nicht ein ganz neues Gefühl?«, fragte sie, womit sie
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