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Das Letzte Ritual

Das Letzte Ritual

Titel: Das Letzte Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
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den Fußboden in seinem Zimmer meinte.
    Gylfi antwortete nicht sofort. Er lag ausgestreckt auf dem Bett und telefonierte. Als er seine Mutter erblickte, verabschiedete er sich hastig und flüsterte in den Hörer, er melde sich später wieder. Gylfi richtete sich auf und legte das Telefon beiseite. Er kam Dóra fast ein wenig verstört vor. »Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so blass.«
    »Was?«, fragte Gylfi. »Doch, doch, es ist alles in Ordnung. Alles prima.«
    »Na dann«, entgegnete Dóra. »Ich wollte nur wissen, ob du die Luft im Zimmer nicht viel angenehmer findest, nachdem ich gesaugt habe. Bekomme ich zur Belohnung vielleicht einen Kuss?«
    Gylfi erhob sich vom Bett. Er schaute sich geistesabwesend im Zimmer um. »Äh, ja. Sieht toll aus.«
    Dóra schaute ihren Sohn prüfend an. Es bestand kein Zweifel – irgendetwas stimmte nicht. Normalerweise hätte er mit den Schultern gezuckt oder gemurmelt, der Fußboden interessiere ihn nicht die Bohne. Gylfi hatte ein Problem und Dóra spürte einen Stich in der Magengegend. Sie hatte sich zu wenig um ihn gekümmert. Er hatte sich seit der Scheidung von einem kleinen Jungen fast in einen Mann verwandelt, und Dóra war zu sehr mit sich selbst und ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen. Jetzt wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen und ihm über sein zu langes Haar gestrichen, aber das wäre nicht sehr schlau – diese Zeiten waren ein für alle Mal vorüber. »Hey«, raunte sie und legte ihre Hand auf seine Schulter. Sie musste sich fast den Hals ausrenken, um ihm ins Gesicht schauen zu können, da er seinen Kopf zur Seite drehte. »Irgendwas stimmt doch nicht. Du kannst es mir ruhig erzählen. Ich verspreche dir, nicht wütend zu sein.«
    Gylfi blickte sie abwesend an, sagte aber nichts. Dóra merkte, wie sich winzige Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten, und ihr kam in den Sinn, er könne eine Grippe haben. »Hast du Fieber?«, fragte sie und wollte ihre Hand auf seine Stirn legen.
    Gylfi wich ihr geschickt aus. »Nee. Bestimmt nicht. Hab nur schlechte Nachrichten bekommen.«
    »Ach so?«, sagte Dóra vorsichtig. »Wer war denn da eben am Telefon?«
    »Sigga … äh, Siggi, meine ich«, antwortete Gylfi, ohne seiner Mutter in die Augen zu schauen. Dann fügte er hastig hinzu: »Arsenal hat gegen Liverpool verloren.«
    Ihr war vollkommen klar, dass das eine dumme Ausrede war. Dóra kannte in Gylfis Freundeskreis keinen Siggi – allerdings hatte Gylfi jede Menge Bekannte, die sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Aber sie kannte ihren Sohn gut genug, um zu wissen, dass er kein so großer Fußballfan war, dass ihn die Ergebnisse der englischen Liga dermaßen aus dem Gleichgewicht brächten. Sie überlegte, ob sie weiter nachfragen oder so tun sollte, als sei nichts geschehen. Dóra hielt die zweite Möglichkeit für angemessener, jedenfalls im Moment. »Ach, wie blöd. Immer diese verdammten Liverpooler.« Sie blickte ihm fest in die Augen.
    »Gylfi, wenn du mit mir darüber reden möchtest, dann versprich mir, es nicht hinauszuzögern.« Als sie sah, dass er zurückwich, fügte sie schnell hinzu: »Ich meine das mit dem Spiel. Mit Arsenal. Du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst, Schatz. Ich kann zwar nicht die Probleme der ganzen Welt lösen, aber ich kann es mit unseren eigenen probieren.«
    Gylfi schaute sie kommentarlos an. Er lächelte schwach und murmelte, er müsse noch einen Aufsatz zu Ende schreiben. Dóra brummelte etwas zurück, ging hinaus und schloss die Zimmertür. Sie konnte sich schwer vorstellen, welches Ereignis einen 16-jährigen Jungen aus dem Gleichgewicht brachte – sie war schließlich selbst nie in seiner Lage gewesen und erinnerte sich nicht besonders gut an ihre eigene Jugend. Das Einzige, was ihr einfiel, waren mädchentypische Probleme. Vielleicht war er unglücklich in ein Mädchen verliebt. Dóra beschloss, die Sache geschickter anzugehen – sie würde ihm morgen beim Frühstück ein paar Fangfragen stellen. Vielleicht hatte er diese Krise morgen sogar schon überwunden. Gut möglich, dass es sich nur um einen Sturm im Wasserglas handelte – ein Hormonschub.
    Nachdem sie Sóley die Zähne geputzt und ihr etwas vorgelesen hatte, machte Dóra es sich auf dem Sofa vor dem Fernseher gemütlich. Sie brachte ein Telefonat mit ihrer Mutter hinter sich, die gemeinsam mit ihrem Vater einen Monat Urlaub auf den Kanarischen Inseln machte. Bei jedem Anruf musste sie

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