Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Letzte Ritual

Das Letzte Ritual

Titel: Das Letzte Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
Vom Netzwerk:
sich dasselbe Gejammer anhören. Letztes Mal war es der fehlende isländische Quark gewesen, der ihre Eltern fast ins Grab gebracht hätte, jetzt war es der Discovery Channel im Fernsehen im Hotel, von dem ihr Vater nach Aussage ihrer Mutter abhängig geworden war. Sie verabschiedeten sich, und ihre Mutter sagte betrübt, sie würde jetzt neben ihrem Mann aufs Sofa sacken und sich darüber belehren lassen, wie sich Raupen vermehren. Dóra schmunzelte, legte auf und starrte weiter auf den Bildschirm. Als sie fast bei einer albernen Reality-Serie eingeschlafen wäre, klingelte das Telefon. Sie richtete sich auf dem Sofa auf und reckte sich nach dem Telefon.
    »Dóra«, meldete sie sich, wobei sie darauf Acht gab, ihre Stimme nicht so klingen zu lassen, als sei sie eben eingenickt.
    »Ja, grüß dich, hier ist Hannes«, tönte es vom anderen Ende der Leitung.
    »Ja, hallo.« Dóra wusste nicht, ob es jemals aufhören würde, ihr unangenehm zu sein, mit ihrem Ex-Mann Hannes zu sprechen. Dieses verklemmte Miteinanderumgehen resultierte zweifellos daraus, dass sich ihre intime Beziehung in ein gezwungenes Höflichkeitsverhältnis verwandelt hatte, was so ähnlich war, wie einem früheren Liebhaber oder jemandem, mit dem man in jungen Jahren geschlafen hat, zu begegnen – in einem so kleinen Land wie Island war das unumgänglich.
    »Hör mal, wegen des Wochenendes, ich wollte dich fragen, ob ich die Kinder am Freitag ein bisschen später abholen kann. Ich möchte mit Gylfi eine Probefahrt machen und glaube, das geht besser, wenn der Berufsverkehr vorbei ist, so gegen acht.«
    Dóra willigte ein, obwohl sie wusste, dass diese Verspätung nichts mit der Probefahrt zu tun hatte. Hannes musste wahrscheinlich länger arbeiten oder wollte nach der Arbeit noch ins Fitnessstudio. Genau das war einer der Gründe für ihre endlosen Streitigkeiten vor der Trennung gewesen: dass Hannes nie für irgendetwas Verantwortung übernahm; Schuld hatten immer die anderen oder es lag angeblich an den äußeren Umständen, auf die er keinen Einfluss hatte. Aber das war jetzt nicht mehr Dóras, sondern Klaras Problem, seine jetzige Lebensgefährtin. »Was habt ihr am Wochenende vor?«, fragte Dóra, nur um etwas zu sagen. »Soll ich was Besonderes einpacken?«
    »Ja, wir gehen vielleicht reiten und es wäre gut, wenn sie dafür geeignete Klamotten dabeihätten«, antwortete Hannes.
    Klara war Reiterin und hatte Hannes mit in diesen Sport hineingezogen. Dies bereitete Sóley und Gylfi großen Kummer, denn sie hatten Dóras Ängstlichkeit geerbt, und diese angeborene Angst war bei den Kindern sogar noch stärker als bei der Mutter. Dóra fuhr nicht gern bei Straßenglätte Auto, kletterte nicht gern auf Berge, fuhr nicht gern Aufzug, aß nicht gern rohe Lebensmittel und mied alles, was möglicherweise schlimm enden könnte. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie jedoch keine Flugangst. Daher hatte sie volles Verständnis dafür, dass ihre Kinder bei dem Gedanken, auf ein Pferd zu steigen, von Panik befallen wurden. Hannes hingegen versuchte ständig, den Kindern einzureden, sie würden sich schon daran gewöhnen. »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«, fragte Dóra, obwohl sie wusste, dass sie keinen Einfluss auf Hannes’ Pläne hatte. »Gylfi ist zurzeit ein bisschen niedergeschlagen und ich bin mir nicht sicher, ob ein Ausritt das ist, was er im Moment braucht.«
    »So ein Blödsinn«, erwiderte Hannes barsch. »Er wird ein immer besserer Reiter.«
    »Das sagst du. Versuch bitte trotzdem, mal mit ihm zu reden. Ich glaube, er hat irgendwelche Probleme mit Mädchen. Darüber weißt du schließlich mehr als ich.«
    »Probleme mit Mädchen? Was soll ich denn darüber wissen?« Hannes klang ganz aufgewühlt und Dóra grinste in sich hinein.
    »Du weißt schon, etwas, das ihm dabei hilft, mit den Problemen des Lebens zurechtzukommen.« Dóras Grinsen verbreiterte sich.
    »Du machst Witze«, sagte Hannes hoffnungsvoll.
    »Nein, eigentlich nicht«, entgegnete Dóra. »Du wirst schon eine Lösung finden. Ich tue dasselbe für unsere Tochter, wenn bei ihr die Probleme mit den Jungs beginnen. Du kannst doch zum Beispiel mal versuchen, ihn bei eurem Ausritt beiseite zu nehmen und in aller Ruhe mit ihm zu sprechen.«
    Dóra beendete das Gespräch und war sich ziemlich sicher, dass es ihr gelungen war, die Wahrscheinlichkeit eines Ausritts zu verringern. Sie versuchte, wieder in die Unwirklichkeit der Fernsehwelt abzutauchen. Aber es gelang ihr

Weitere Kostenlose Bücher