Das Letzte Ritual
lächelten sie von der Titelseite aus an; darunter stand die Schlagzeile: »Tom Cruise wird Papa!« Der Kindersegen des Schauspielerpaares interessierte Dóra ungefähr genauso sehr wie ein Artikel über Gurkenanbau, weshalb sie die Zeitschrift zurück an ihren Platz legte.
»Ich wusste es«, tönte Dóra siegessicher, als sie wieder ins Arbeitszimmer zurückkam.
»Ich wusste es auch«, entgegnete Matthias. »Ich wusste nur nicht, dass Sie es nicht wussten.«
Dóra wollte gerade etwas erwidern, als ihr Handy klingelte. Sie fischte es aus ihrer Handtasche.
»Mama«, piepste das dünne Stimmchen ihrer Tochter Sóley. »Wann kommst du?«
Dóra schaute auf die Uhr. Es war später, als sie gedacht hatte. »Jetzt gleich, mein Schatz. Ist alles in Ordnung?«
Schweigen und dann: »Hm. Mir ist nur langweilig. Gylfi will nicht mit mir reden. Er hüpft auf seinem Bett rum und will mich nicht reinlassen.«
Dóra war sich nicht ganz klar, was das zu bedeuten hatte, aber offenbar vernachlässigte Gylfi seine Babysitterpflichten. »Hör mal, Liebling«, sagte sie sanft ins Telefon. »Ich beeile mich, nach Hause zu kommen. Sag deinem Bruder, er soll sich nicht so idiotisch benehmen und zu dir kommen.«
Als sie das Handy wieder in ihre Handtasche steckte, stieß Dóra auf den Zettel mit ihren Notizen zu den Unterlagen in der Mappe. Sie holte den Zettel heraus und faltete ihn auseinander. »Ich möchte Sie ein paar Dinge zu der Mappe fragen …«
»Ein paar?«, sagte er überrascht. »Ich habe mehr als ›ein paar‹ erwartet – ziemliche viele, um ehrlich zu sein. Aber schießen Sie los.«
Dóra schaute unsicher auf ihre Liste. Mist, hatte sie so viele Punkte übersehen? Sie ließ sich nichts anmerken. »Es handelt sich nur um die Hauptfragen, es gab zu viele Kleinigkeiten, um sie alle aufzuschreiben.« Sie grinste ihn an und redete weiter. »Zum Beispiel die Bundeswehr. Warum waren diese Unterlagen in der Mappe? War Harald tatsächlich zu krank, um seinen Wehrpflicht abzuleisten?«
»Die Bundeswehr, ja. Ich habe das eigentlich nur hinzugefügt, damit Sie ein möglichst genaues Bild von Haralds Lebenslauf bekommen. Es tut vielleicht nichts zur Sache, aber man weiß nie, wie die Fäden zusammenlaufen.«
»Sie denken, der Mord hat etwas mit der Bundeswehr zu tun?«, fragte Dóra ungläubig.
»Nein, bestimmt nicht«, antwortete Matthias. Er zuckte mit den Schultern. »Andererseits weiß man bei Harald ja nie so genau.«
»Und warum ist er überhaupt zur Bundeswehr gegangen?«, fragte Dóra. »Den Beschreibungen nach zu urteilen, müsste er doch eigentlich gegen jegliche militärische Aktivitäten gewesen sein.«
»Da haben Sie vollkommen Recht. Er wurde einberufen, aber unter normalen Umständen hätte er sich mit Sicherheit für den Zivildienst entschieden. Sie wissen bestimmt, dass man in Deutschland diese Möglichkeit hat.« Dóra nickte. »Aber er tat es nicht. Seine Schwester Amelia war kurz zuvor gestorben, was ihm sehr nahe ging. Ich könnte mir vorstellen, dass er diese Entscheidung in einer seelischen Krisensituation getroffen hat. Es war zu Beginn des Jahres 1999, und im November oder Dezember desselben Jahres kam der Bescheid, Truppen in den Kosovo zu schicken. Harald reiste geradezu euphorisch ab. Ich kenne keine Details über seine militärische Laufbahn, weiß aber, dass er als vorbildlich, kooperativ und belastbar galt. Daher kam der Vorfall im Kosovo für seine Vorgesetzten völlig überraschend.«
»Welcher Vorfall?«, fragte Dóra.
Matthias verzog das Gesicht. »Eine unangenehme Geschichte. Vor allem, wenn man bedenkt, dass dieser Einsatz im Kosovo der erste Auslandseinsatz einer deutschen Armee nach dem Zweiten Weltkrieg war. Davor haben deutsche Soldaten im Ausland nur an Friedensmissionen teilgenommen. Die Vorbildfunktion unserer Soldaten spielte natürlich eine große Rolle.«
»Und die hat Harald nicht erfüllt, oder was?«, fragte Dóra.
»Doch, im Grunde schon. Man kann vielleicht sagen, er ist in unglückliche Umstände geraten. Als er drei Monate lang im Kosovo war, nahm seine Einheit einen Serben gefangen, der unter dem Verdacht stand, Informationen über tödliche Sprengstoffattentate zu besitzen. Dabei waren drei deutsche Soldaten ums Leben gekommen und weitere Männer schwer verletzt worden. Der Serbe wurde im Keller des Hauses untergebracht, in dem Haralds Truppe ihren Stützpunkt hatte. Harald war einer derjenigen, die den Mann bewachen sollten. Der Gefangene war bereits zwei oder
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