Das Letzte Ritual
während sie versuchte, sich durch das Gedränge zu schlängeln. Ihr Sohn stand im Türrahmen und verfolgte das Geschehen. Er sah immer noch genauso niedergeschlagen aus wie am Morgen. »Habt ihr zusammen gelernt?«, fragte Dóra, sich vollkommen bewusst, wie undenkbar das war. In diesem Alter traf man sich nicht, um zu lernen. Aber es war ihre elterliche Pflicht, lächerliche Bemerkungen wie diese zu machen.
»Äh, nö«, antwortete Patti, Gylfis langjähriger bester Freund. Er war ein netter Junge, dessen Hauptmerkmal darin bestand, jederzeit sagen zu können, wie viele Monate, Tage und Stunden es noch dauerte, bis er den Führerschein bekam. Dóra hatte die Zahlen ein paar Mal kontrolliert und sie waren fast immer korrekt.
Dóra lächelte dem Mädchen zu, das schüchtern ihrem Blick auswich. Sie konnte sich unmöglich an ihren Namen erinnern, aber sie hatte sie in der letzten Zeit öfter gesehen. Gylfi hatte einen richtigen Entwicklungssprung gemacht und vielleicht war ihr Sohn in dieses Mädchen verliebt oder sie waren sogar ein Liebespaar? Das Mädchen war hübsch und fast genauso groß wie Gylfi und seine Freunde.
Sóley, die Dóra ins Haus gefolgt war, hatte ihre Schuhe und ihren Anorak ausgezogen und beides ordentlich an seinen Platz geräumt. Sie beobachtete die Jugendlichen, stützte dann die Hände in die Hüften und fragte gouvernantenhaft: »Seid ihr wieder im Bett rumgehüpft? Das ist verboten – die Matratze geht davon kaputt.«
Ihrem Bruder trat die Schamesröte ins Gesicht und er motzte: »Warum muss ich eine so beknackte Familie haben? Ihr beide seid unerträglich.« Er stürmte türeknallend davon. Seine Freunde waren furchtbar verlegen und die allgemeine Hektik beim Jackenanziehen verstärkte sich noch.
»Tschüss«, verabschiedete sich Patti, bevor er die Haustür hinter sich und den anderen zuzog. Bevor die Tür ins Schloss fallen konnte, änderte er seine Absicht, steckte den Kopf noch einmal durch den Türrahmen und verkündete: »Ihr seid lange nicht so beknackt wie meine Familie – Gylfi ist in letzter Zeit einfach nicht so gut drauf.«
Dóra lächelte ihm zu und bedankte sich herzlich. Immerhin ein Versuch, ein bisschen Höflichkeit an den Tag zu legen – auch wenn die Wortwahl zu wünschen übrig ließ. »Also dann«, sagte sie zu ihrer Tochter, »sollen wir was kochen?« Die Kleine nickte gewissenhaft und begann, eine Einkaufstüte in die Küche zu schleppen.
Nach dem gemeinsamen Abendessen – tiefgefrorene Lasagne, die Dóra extra ausgesucht, und indisches Nan-Brot, das sie versehentlich für Knoblauchbrot gehalten hatte –, ging ihre Tochter zum Spielen in ihr Zimmer, während ihr Sohn den Tisch abräumte. Offensichtlich bedauerte er seinen Ausfall über die intellektuellen Fähigkeiten seiner Mutter und seiner Schwester, brachte aber keine Entschuldigung über die Lippen. Dóra tat so, als sei nichts gewesen, und hoffte, er würde ihr am Ende von sich aus anvertrauen, was er auf dem Herzen hatte. Dóra küsste ihren Sohn vorsichtig auf die Wange und bedankte sich für die Hilfe. Im Gegenzug schenkte er ihr ein zerknirschtes Lächeln. Anschließend ging er in sein Zimmer.
Dóra beschloss, die plötzlich eingetretene Ruhe zu nutzen, um die Dateien anzuschauen, die sie aus Haralds Computer kopiert hatte. Sie holte ihren Laptop und machte es sich damit auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem. Dóra betrachtete einige Fotos vom Kochen und von der Zungenoperation. Die Fotos von der Operation waren vom 17. September. Sie öffnete eines nach dem anderen und vergrößerte die Bildausschnitte, auf denen interessante Details auftauchten. Zwischendurch gab es auch weniger abstoßende Bilder. Die meisten zeigten die Mundhöhle und die Operation selbst, aber abgesehen von Haralds Kiefer waren auch allerlei undeutliche Dinge am Bildrand zu erkennen. Zweifellos hatte die Operation in einer Privatwohnung stattgefunden. Was von der Einrichtung zu sehen war, unterschied sich deutlich von einer Arzt- oder Zahnarztpraxis. Dóra erkannte einen Sofatisch, auf dem jeder Zentimeter mit halbleeren oder leeren Gläsern, Bierdosen und anderem Kram bedeckt war, darunter auch ein großer, überquellender Aschenbecher. Es konnte sich nicht um Haralds Wohnung handeln, sie war nicht so durchgestylt und geschmackvoll wie Haralds weißes, modernes Domizil. Auf einem anderen Foto war der Körper der Person zu erkennen, die die Operation durchführte oder dabei assistierte. Er oder sie trug ein hellbraunes T-Shirt
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