Das Letzte Ritual
mit einem Schriftzug, den Dóra wegen des Faltenwurfs nicht lesen konnte. Es gelang ihr jedoch, die Zahl »100« und »… lico …« zu entziffern. Bei der Aufnahme der ersten zwei Fotos hatte das Schneiden noch nicht begonnen, aber auf dem dritten Bild war das Skalpell in Aktion – Blut rann aus Haralds Mundwinkeln und der abgelichtete Arm war mit Blutspritzern gesprenkelt. Beim Einschneiden der Zunge musste es in alle Richtungen gespritzt sein. Falls Wunden an der Zunge mit üblichen Kopfwunden vergleichbar sind, musste es sehr stark geblutet haben. Dóra musterte den Arm und vergrößerte den Ausschnitt, auf dem sie ein Tattoo zu erkennen glaubte. Richtig; auf dem Arm konnte man das Wort »crap« lesen. Kein Motiv oder Muster – nur »crap«.
Die Fotos vom Kochen waren interessant, weil sie kurz vor Haralds Tod datiert waren – zu der Zeit, von der Hugi behauptet hatte, Harald habe sich abgekapselt und keinen Kontakt zu seinen Freunden gehabt. Die Dateiinfos bestätigten es; die Fotos waren mittwochs geschossen worden, drei Tage vor Haralds Ermordung. Dóra betrachtete die beiden Fotos ausgiebig, vor allem die Hände, die damit beschäftigt waren, einen Salat zuzubereiten und Brot zu schneiden. Ein Halbblinder konnte erkennen, dass es sich um zwei unterschiedliche Personen handelte. Ein Händepaar war mit Narben bedeckt – Tattoo-Narben, die unter anderem einen fünfeckigen Stern sowie einen Smiley mit heruntergezogenen Mundwinkeln und Hörnern bildeten. Das musste Harald sein. Das andere Händepaar war wesentlich ansehnlicher; Frauenhände mit schlanken Fingern und gepflegten, kurzen Fingernägeln. Dóra vergrößerte das eine Foto, auf dem man am Ringfinger einen schlichten Ring mit einem Diamanten oder einem anderen weißen Edelstein erkennen konnte. Der Ring war recht unauffällig, aber vielleicht erkannte ihn Hugi, wenn man ihm das Foto zeigte.
Etwas regte sich in Dóras Gedächtnis – etwas hatte sie bei ihrem ersten Besuch in Haralds Wohnung gestört. Die deutsche Illustrierte im Badezimmer. Ausgeschlossen, dass Harald eine solche Frauenzeitschrift las. Und Isländer lasen sie natürlich auch nicht. Irgendjemand aus Deutschland musste sie mitgebracht haben – eine Frau. Von der Titelseite der Zeitschrift hatten Tom Cruise und seine Gattin in Vorfreude auf ihren Familienzuwachs in die Kamera gelächelt. Wenn Dóra nicht alles täuschte, war dieses Kind im Herbst auf die Welt gekommen. Hatte Harald Besuch aus Deutschland gehabt – jemand, der bei ihm wohnte, als er sich von seinen Freunden zurückzog? Dóra wählte Matthias’ Nummer. Nach dem dritten Klingeln nahm er ab.
»Wo sind Sie? Störe ich?«, fragte Dóra, als sie Stimmengewirr im Hintergrund wahrnahm.
»Nein, nein«, nuschelte Matthias mit vollem Mund. Er schluckte. »Ich esse gerade, hab Fleisch bestellt. Was gibt’s denn? Möchten Sie herkommen und ein Dessert mit mir teilen?«
»Äh, nein danke.« Dóra merkte, dass sie große Lust dazu hatte. Es machte Spaß, essen zu gehen, etwas Schickes anzuziehen und mit Gläsern anzustoßen, die man nicht selbst spülen musste.
»Morgen ist Schule und ich muss die Kinder rechtzeitig ins Bett bringen. Nein, ich rufe nur an, um zu fragen, ob Sie die Telefonnummer von Haralds Putzfrau haben – ich glaube, jemand hat sich kurz vor dem Mord bei ihm aufgehalten, sogar bei ihm gewohnt. Alles deutet darauf hin, dass es sich um jemanden aus Deutschland handelt – eine Frau.«
»Ja, ich hab die Nummer irgendwo gespeichert. Soll ich für Sie anrufen? Ich habe schon mal mit der Frau gesprochen und sie spricht gut Englisch. Das ist vielleicht am einfachsten – die Frau kennt Sie ja nicht, kann sich aber bestimmt an mich erinnern, da ich ihre letzte Rechnung bezahlt habe.«
Dóra nahm dankend an und Matthias versprach, zurückzurufen. Sie nutzte die Zeit, um ihrer Tochter zu sagen, sie solle ihren Schlafanzug anziehen. Dóra war gerade damit beschäftigt, Sóley die Zähne zu putzen, als Matthias wieder anrief. Sie klemmte sich den Hörer unters Kinn, um gleichzeitig telefonieren und sich der Zahnpflege ihres Schützlings widmen zu können.
»Hören Sie, die Frau sagt, das Bett im Gästezimmer sei benutzt gewesen. Außerdem hätten Kosmetikartikel im Bad gestanden – Einwegrasierer – diese Frauenrasierer. Sie haben offenbar Recht.«
»Hat sie das auch der Polizei erzählt?«, fragte Dóra.
»Nein, sie fand es nicht wichtig, da Harald nicht zu Hause ermordet wurde. Außerdem erzählte sie, es
Weitere Kostenlose Bücher