Das letzte Sakrament
die Schublade der Typen, die ihn in der Schule nie hatten abschreiben lassen und sich dabei auch noch moralisch überlegen fühlten. Simovic hingegen gehörte zu jenen Jungs, die solche Streber im Pausenhof verdroschen hatten, und zwar, ohne sich hinterher schlecht zu fühlen. Normalerweise ging Simovic diesen bleichen Angsthasen aus dem Weg. Doch er musste zugeben, der Professor war mehr als ein wandelndes Lexikon mit Brille. Der Mann hatte eine Vision. Wismut nutzte sein Wissen, um die Welt zu verändern.
War ein langweiliger, aber genialer Wissenschaftler nicht sogar perfekt für eine solche Story? War er nicht die passende Ergänzung für ihn? Nur gemeinsam konnten sie die Welt überzeugen, nur gemeinsam konnten sie die nötige Mischung aus Ernsthaftigkeit und Show, aus Fakten und Provokation auf die Fernsehbühnen der Welt bringen. Aber es würde nur eine Zusammenarbeit auf Zeit sein. Irgendwann wäre das Thema so groß, dass er den Professor nicht mehr benötigte. Und der Professor ihn, Roger Simovic, nicht mehr. Und irgendwann wäre der kleine Jesus so alt, dass er sich entscheiden musste. Entscheiden, wer ihm die Stimme leihen sollte. Der Professor, für den er im Grunde nur ein Experiment war? Ein Vater, von dem sich jeder früher oder später löste?
Nein, der Junge würde sich für den Mann entscheiden, der ihm die große weite Welt zeigte. Für den Mann, der wusste, wie man die Massen begeisterte. Für ihn. Doch bevor Simovic sich diesen Traum ihn allen Farben ausmalte, zwang er sich in die Wirklichkeit zurück. Er verspeiste mal wieder den Braten, bevor er das Tier erlegt hatte.
Der Blonde redete noch immer auf ihn ein. Er schien zu glauben, er könnte die Situation unter Kontrolle bekommen. Sie könnten ihn hundert Jahre hier einkerkern, könnten ihn umbringen, die Story würden sie nicht aufhalten.
Nein, sie konnten nicht einmal ihn aufhalten. Niemand würde ihm auch nur ein Haar krümmen. Er war vor laufender Kamera verhaftet worden. Ein Politikum. Spätestens in ein paar Tagen war er wieder auf freiem Fuß. Der Vatikan konnte es sich gar nicht leisten, an zwei Fronten zu kämpfen. Seine Verhaftung war nur ein Nebenkriegsschauplatz. In Wirklichkeit ging es um Jesus. Damit musste der Vatikan sich befassen und nicht damit, unschuldige Reporter gefangen zu halten.
Als hätte der Mann in Blond seine Gedanken lesen können, schüttelte er plötzlich den Kopf und klopfte an die Metalltür. Ein Wärter öffnete sie. Der blonde Hüne ging hinaus, doch dann zögerte er. Er drehte sich noch einmal um und schickte die Wache weg.
»Wir wissen von dem Mord an unserem Bruder in Basel«, flüsterte der Blonde und blickte Simovic mit durchdringenden Augen an. »Sie werden uns nicht entkommen!«
33
Die Schäfchen, die er zählen wollte, hatten auf ihrem Wollkleid das Antlitz von Jesus eingebrannt. Seltsam. In diesem Augenblick wusste Alex Pandera, er würde heute Nacht keinen Schlaf finden. Ohne Jackie zu wecken, stand er auf, zog sich an und ging ins Arbeitszimmer. Dort setzte er sich vor seinen Laptop und klickte sich auf die Homepage von BIGNEWS. Es dauerte erstaunlich lange, bis die Seite geladen war, doch als sie endlich erschien, glaubte er zuerst, sie sei nicht vollständig. Normalerweise blinkte es auf der Homepage an allen Ecken und Enden, und mehrere Schlagzeilen kämpften mit den Werbebannern um Aufmerksamkeit. Heute hingegen war die Startseite fast leer. Nur ein Videofenster öffnete sich, in dem man die Sendung anschauen konnte, über die jeder diskutierte.
Pandera klickte auf den Abspiel-Button und wartete. Der Fortschrittsbalken kroch dahin wie eine Schnecke im Rückwärtsgang. Offensichtlich waren die Server des Senders immer noch überlastet. Pandera kam sich vor wie im Steinzeitalter des Internets, als man ein paar Megabyte noch größere Bedeutung beigemessen hatte. Endlich, fünf Minuten später begann das Video.
Mit jeder Minute, die er sah, verstand er besser, warum seine Familie so reagiert hatte. Spätestens jetzt würden auch die Herren in Solothurn begreifen, warum Roland Obrist ermordet worden war. Wenn sie es nicht schon lange wussten …
Punkt sechs Uhr morgens stand Pandera vor der Tür der Bistumsverwaltung. Eine wahrlich unchristliche Zeit. Doch er wusste, dass der Bischof und der Vikar hier wohnten. Vielleicht konnten ja auch sie nicht schlafen?
Als er beim dritten Mal den Klingelknopf ein wenig länger drückte, meldete sich eine Frauenstimme über die Türsprechanlage.
Weitere Kostenlose Bücher