Das letzte Sakrament
Öffentlichkeit, die erste Klonkuh geboren. Sie lebte quickfidel über zehn Jahre lang und wurde mehrfache Mutter, Großmutter und Urgroßmutter.«
Auf dem Bildschirm wurde ein Foto der Kuh gezeigt, die mit ihrem braun-weißen Fell aussah wie jede andere Kuh auch. »Schon 2008 grasten weltweit mehr als fünftausend Klonkühe auf den Weiden, dazu kommt eine große Anzahl geklonter Schweine und Schafe. Selbst Katzen, Hunde und Fische wurden inzwischen geklont, und 2007 kam der erste Rhesusaffe hinzu. Und so ging es immer weiter. Doch all diese Fortschritte wurden von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Daher glauben viele immer noch, Klonen sei Hexenwerk. Dabei ist es tägliche wissenschaftliche Praxis. Allein in den USA gibt es mehr als ein Dutzend Firmen, die sich auf das Klonen von Haustieren spezialisiert haben.«
Simovic stellte fest, dass die Menschenmenge immer größer wurde. Zufrieden strich er sich durch die frisch frisierten Haare, währenddessen ließ er das Bild zweier menschlicher Zwillinge zeigen.
»Hat Gott selbst nicht das Klonen erfunden?«, fragte er. »Wie sonst sind all die Zwillinge, Drillinge und Vierlinge zu erklären, die unsere Erde bevölkern? Die Wissenschaft wiederholt nur das, was Gott selbst als Teil der Schöpfung geschaffen hat.«
Die Zustimmungsrufe wurden immer lauter und euphorischer. Er hatte sie überzeugt, und er wusste, dass auch die Menschen daheim an den Bildschirmen seinen Argumenten folgen würden.
»Auch wenn Jesus zweifellos ein einzigartiger Mensch war, so hat Gott selbst ihm vier Brüder geschenkt«, erklärte Simovic und lächelte überlegen in die verdutzten Gesichter vor ihm. »Und ein paar ungenannte Schwestern. Und das alles, obwohl Maria immerwährende Jungfrau war«, fügte er hinzu. Er nahm die große Bibel, die er schon bei seinem ersten Auftritt verwendet hatte, schlug sie auf und zeigte mit dem Finger auf eine unterstrichene Stelle, die nun in Nahaufnahme gezeigt wurde.
»Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns?«, las er mit der Stimme eines Priesters. Dann klappte er die Bibel wieder zu. »Diese Zeilen stammen aus dem Markus-Evangelium, Kapitel sechs, Vers drei«, erklärte er. »Überzeugen Sie sich selbst, auf unserer Homepage finden Sie weitere Bibelstellen zum Nachlesen, die Hinweise auf die Geschwister von Jesus geben.«
»Ich frage Sie«, fuhr er fort, »was ist daran verwerflich, wenn die Menschheit, die von Gott selbst geschaffen worden ist, sich einen Bruder schenkt? Einen echten Zwillingsbruder des Heilands, einen Bruder, der heute lebt und der für uns Menschen da ist. Der unsere Sorgen und Nöte versteht und nicht die Sorgen und Nöte der Kirche. Um die Kirche kann sich gerne der Papst kümmern, so wie er es all die Jahrhunderte lang getan hat. Aber der neue Jesus ist für uns geschaffen worden und für niemanden sonst. Und genau aus diesem Grund bekämpft der Papst ihn!«
Er verbeugte sich, und Applaus brandete auf. Dieser Augenblick, als er vor der jubelnden Menge stand – das war es, was er unter Glück verstand.
Das rote Licht der Kamera erlosch, und Simovic ließ sich auf seinen Regiestuhl fallen. Er war erschöpft. Er ließ sich ein Handtuch bringen, tupfte über die schweißnasse Stirn und nahm die Gratulationen der Kollegen entgegen. Natürlich hatte er das zentrale Argument des Papstes – eine Seele kann man nicht klonen – unbeantwortet gelassen, er war nicht einmal darauf eingegangen. Der Papst musste sich schon selbst darum kümmern, wenn er wollte, dass dieses Argument Gehör fand. Dann konnte er immer noch darauf reagieren. So wird das gemacht, dachte Simovic. So und nicht anders. Mit einem kräftigen Schluck trank er ein großes Glas Wasser leer.
Als die Gratulationen allmählich abebbten und er einen Moment lang alleine war, fragte er sich, wie das alles enden würde. Er wusste es selbst nicht. Aber eines war sicher: Es würde spannend bleiben.
52
»Gehet hin in Frieden!«, rief Bischof Obrist in einem Ton, der Mahnung und Feierlichkeit miteinander verband, als seien es keine grundverschiedenen Dinge.
»Dank sei Gott dem Herrn«, schallte es ihm von der Gemeinde entgegen, so laut und kräftig wie sonst nur an Ostern oder Weihnachten. Die Kathedrale von Solothurn war bis auf den letzten Platz gefüllt. Und das bei einem Abendgottesdienst unter der Woche.
Johann Obrist wartete, bis das Echo seiner Schäfchen
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