Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Sakrament

Das letzte Sakrament

Titel: Das letzte Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kowa
Vom Netzwerk:
verklungen war, dann senkte er die zum Segen erhobenen Arme und ging die Altarstufen hinab. Der Organist spielte den Schlusschoral, getragen und doch düster. Gestützt auf einem goldenen Stock, ging Obrist durch das Kirchenschiff. Jeder Schritt auf dem harten Steinboden bereitete ihm Mühe.
    Die Gläubigen hatten sich erhoben und betrachteten den alten Mann mit großer Ehrfurcht, viele bekreuzigten sich. Johann Obrist hatte den Jesusklon in seiner Predigt nur indirekt angesprochen. Man solle sich nicht den falschen Göttern zuwenden, hatte er gesagt. Nicht jenen, die von Menschenhand erschaffen seien. Man solle nur den Worten glauben, die von Gott kamen.
    Nach der Messe ging er zurück in die Priesterräume gegenüber der Kathedrale. Dort legte er seine Mitra ab, ebenso das Pallium und das Messgewand. Er formte mit den Händen einen Kelch, ließ kaltes Wasser hineinlaufen und spritzte es sich ins Gesicht.
    Er hatte gehofft, dass die Andacht, bei der er sich Gott immer so nah fühlte, ihm den Weg weisen würde. Doch heute war es ihm vorgekommen, als sei der Allmächtige gar nicht zu Besuch gewesen. Als habe er sich von seinem Haus abgewendet. War das ein Zeichen? War die Kirche vom richtigen Weg abgekommen? Wie stand es um ihn selbst? Kämpfte er sein letztes Gefecht?
    Lag die Entscheidung überhaupt noch in seiner Hand? War es nicht unvermeidlich, was geschehen würde? Der Bischof blickte in den Spiegel, die Hände zittrig auf den Rand des Waschbeckens gestützt. Das kalte Wasser tropfte ihm von den grauen Barthaaren. Nein! Nichts war unvermeidlich! So leicht würde er nicht aufgeben! Noch war es nicht zu spät!
    Im Orden gab es immer mehr Stimmen, die eine radikale Lösung forderten. Der Bischof wusste nur zu genau, wer derjenige war, der diese Idee geboren hatte. Doch es gab auch Brüder, die gar nichts tun und alles Gott überlassen wollten. Nein! Der Mensch war auf der Erde, um Gottes Willen zu erfüllen! Und nicht, um tatenlos dem Lauf der Welt zuzuschauen.
    Obrist setzte seine Brille auf und strich sich durch die nassen Haare. Auf einmal erkannte er seinen Bruder Roland in sich. Auch wenn dieser keinen Bart getragen hatte und keine achtundsiebzig geworden war. Lediglich sechzig Jahre waren ihm vergönnt gewesen. Sein Bruder war ein Nachgeborener. Ein Agnatus. Wie ein eigener Sohn. Und er selbst wie ein Vater für ihn. Doch ein Vater beschützt seine Kinder. Er hatte versagt.
    Es klopfte, und Vikar Kunen trat in den Raum. »Störe ich?«
    Der Bischof schüttelte den Kopf. Er fühlte sich seltsam unbehaglich. Wie immer in letzter Zeit, wenn er auf den Vikar traf.
    »Wir wissen, wo er ist!«, platzte Kunen heraus. »Ihr Bruder hat recht gehabt!«
    »Wie haben Sie …?« Der Bischof brach mitten im Satz ab. Vielleicht war es besser, wenn er nicht alle Details kannte. »Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte er stattdessen.
    »Ich habe meine Meinung nicht geändert.«
    Aber ich , hätte der Bischof sagen können, doch er tat es nicht.
    »Ich werde ihm folgen und ihn observieren«, sagte der Vikar.
    Der Bischof nickte.
    »Gott wird mir beistehen und mich leiten«, sagte Kunen und bekreuzigte sich. »Bei allem, was ich tue.«
    Bischof Obrist nickte wieder. Er wusste, niemand konnte den Vikar von seinem Plan abbringen. Er konnte nur noch eines tun: beten, dass dieser Plan auch ein Plan Gottes war.

53
    Das Öffnen der Gefängnistür weckte Alex Pandera. Als Erstes spürte er, dass er von der Kälte der Lüftung beinahe steif gefroren war. Als Zweites kam der Schmerz. Seine Knochen taten immer noch weh, als seien sie zersplittert. Und als Drittes sah er das Licht.
    Einen winzigen Augenblick lang blendete es ihn, als würde er mit einem Fernglas direkt in die Sonne sehen. Er rieb sich die Augen. Wenigstens war er nicht blind.
    »Scheiße!«, rief ein Mann, der offenbar die Zelle betreten hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn entdeckten. Er musste reagieren, sofort.
    Pandera robbte ein paar Zentimeter nach vorne, bis er mit den Füßen das Lüftungsblech berührte. Er wusste, ihm blieb nur diese eine Chance. Er hörte, wie der Mann auf den Tisch stieg, dann den Stuhl zurechtrückte und hinaufkletterte. Pandera wartete einen Augenblick, dann zog er beide Beine an und ließ sie mit aller Kraft nach vorne schnellen.
    Mit voller Wucht traf er den Mann am Kopf. Der verlor das Gleichgewicht und kippte rücklings von Stuhl und Tisch auf den Betonboden. Panderas Augen hatten sich zwar noch nicht an die Helligkeit

Weitere Kostenlose Bücher